Was treibt dich an? Was motiviert dich? Was bewegt dich?
Was wirft dich um? Nagt an dir? Zerfrisst dich innerlich?
Stell dir – für den Moment – die Weite des Ozeans vor.
Schließ die Augen für einige Sekunden und beam dich fort.
Tu dir was Gutes. Nimm Kurzurlaub vom Bildschirm.
JETZT.
Nun stell dir vor: Ein Ozean, dessen Küsten „Geburt“ und „Tod“ genannt werden. Vielleicht kannst du hören wie es rauscht. In letzter Zeit ist es stiller geworden, das ist wahr. Unfreiwillige Stille ist bei Weitem nicht so willkommen wie Stille, die du selbst in dein Leben eingeladen hast. Das Meeresrauschen vermittelt Stille. Doch wir, die wir mitten im Leben stehen, wir sind auf hoher See. Wir rudern, treiben, steuern, kentern, es reißt uns hierhin und dorthin, wir lenken wieder ein, erleiden doch Schiffbruch und brechen auf in die nächste Expedition. Die Wellen um uns herum sind Manifestationen unsichtbarer Strömungen in der Tiefe, mithin Zeichen an der Oberfläche, die wir wahrnehmen und deuten können: die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. Wie bei dieser bleibt auch beim Fokus auf eine einzige Welle die wesentliche Ursache und Grundlage verborgen. Wie kam die Welle zustande? Wo nahm sie ihren Anfang? Wann wird sie enden? Wen kümmert’s? Es kommt drauf an, mit ihr eins zu werden und sie zu reiten! Surfer wissen: Die einzige Konstante heißt Veränderung.
Menschen reisen mit dem Körper-Geist-Bewusstsein auf einem Ozean von Einflüssen, die sie hierhin und dorthin reißen. Wir wollen glücklich sein und uns lebendig fühlen. Wir wollen gesund sein. Sicher sein. Wir wollen Spaß und Erfolg haben, wir wollen uns spüren! Wir sehnen uns nach Anerkennung und Ruhm. Und wenn wir das nicht bekommen, wollen wir zumindest Schmerzen vermeiden. (Wenn uns Schmerzen nichts ausmachen oder gar Lust verschaffen, dann finden sich Menschen, denen es Lust verschafft uns Schmerzen zu bereiten.)
Während meiner Reisen habe ich bereits einen Beitrag über die Missverständnisse bezüglich körperlicher Schmerzen geschrieben, der auf meinen Erfahrungen in Einsichtsmeditation (Vipassana) beruht: Körperliche Schmerzen werden oft durch sorgenvolle Gedanken und erhöhte Muskelspannung intensiviert. Wie mit körperlichen Schmerzen ist es auch mit emotionalen Schmerzen. Der menschliche Geist ist imstande, durch Anerkennung des Ist-Zustandes eine Ebene zu erreichen, in der der Schmerz umkreist, d.h. umzingelt und analysiert, vorurteilsfrei wahrgenommen, und schließlich sogar umarmt werden kann. Schmerz mag da sein – doch du leidest nicht mehr daran.
Pain is necessary.
Suffering is optional.
Sinnesempfindung, Bewertung, Gefühl
Alle Erfahrung läuft grundsätzlich darauf hinaus, Wahrnehmungen zu bewirken, die in Raum und Zeit stattfinden. Diese Wahrnehmungen werden bewertet, und je nach Erbanlage und Konstitution, Sozialisierung und kulturellen Gepflogenheiten als angenehm, unangenehm oder neutral eingestuft. Dementsprechend erfahren wir bestimmte Sinneseindrücke als angenehm, unangenehm oder neutral, manchmal auch als eine Mischung dieser drei Gefühlstöne.
Im Laufe des Lebens verändern sich die Bewertungen verschiedener Erlebnisse. Vorlieben und Abneigungen ändern sich. Manches lässt einen kalt, was zuvor sehr anziehend oder verlockend erschien. Etwas, das Jahre zuvor mit Abscheu betrachtet worden ist, wird nun neutral betrachtet oder gar wertgeschätzt. Bestimmt hast auch du im Lauf deines Lebens manches liebgewonnen, was dir früher zuwider war; anderes lehnst du heute ab oder ist dir gleichgültig, woran du früher sehr gehangen bist.
Weltliche Winde
Die acht weltlichen Winde können grundsätzlich mit dem Prinzip von Lust und Unlust subsumiert werden. Je deutlicher wir die Wege sehen, die Menschen wählen, um Glück zu erfahren, umso verständlicher wird das Leid, das sie erfahren. Oft liegt es daran, dass die eigene Welt auf den Raum des eigenen Ego zusammen geschrumpft ist. Das mag im Tal des Schmerzes geschehen, oder im Taumel von Ruhm. Es mag die Anerkennung sein, die einem zu Kopf gestiegen ist oder die ungerechtfertigte Ermahnung vom Chef. Es mag der Lottogewinn sein, der Menschen entzweit oder das Zocken in der Welt der Kryptowährungen, das einen um den Schlaf bringt. Der Wege sind viele, dem Glück hinterherzujagen. Je klarer und deutlicher das wird, umso verständlicher das Ergebnis.
VERGNÜGEN & SCHMERZ
GEWINN & VERLUST
LOB & TADEL
RUHM & SCHANDE
Einsicht und Verständnis in die Unwissenheit führt immer zu Anteilnahme, zu Fürsorge und Mitgefühl. Jemanden zu verurteilen, weil er solche Wege wählt, ist demnach unbewusstes Eingeständnis der eigenen Unwissenheit. Es ist unabdingbar, Handlung („Ich habe das getan“) und Charakter („Ich bin …“) eines Menschen zu unterscheiden und davon auszugehen, dass jedes Individuum (Un-Geteiltes) auch ein Dividuum (Geteiltes) ist. Mit anderen Worten: Die Wellen des Lebens, die uns hin und her werfen seit wir in die Welt geboren wurden, beeinflussen unsere Gedanken, Worte und Taten. Jeder Mensch ist so wie er ist und hat zugleich eine Vision, wie er gern wäre – dies äußert sich in Plänen, Projekten, Zielen.
Das Ziel der spirituellen Praxis ist das intuitive Erkennen dieser Tatsache. Ein Merkmal dieser Praxis ist, dass die Mittel sich im Sinn und Zweck ebendieser Praxis widerspiegeln. Umgekehrt ist das Ziel und der Zweck zugleich der Weg. Selbsterforschung, Selbsterkenntnis und das Erleben von Nicht-Selbst, gleichmütig und befreit von Konzepten und Vorstellungen, dies alles findet in sich selbst seinen Zweck. Durch das Kultivieren von Mitgefühl im Alltag wirst du einfühlsamer. Mit dem Üben von Geduld wird es leichter, geduldig zu sein usw. Meditation dient ebenso der Meditation selbst, d.h. dem profunden Eintauchen in den gegenwärtigen Moment, in das wirkliche LEBEN.
Wenn du nichts mehr spürst, und die Gesellschaft mit ihren Masken unerträglich geworden ist, dann bleibt als Ausweg nur die totale Aufgabe des bisherigen Selbstbildes.
Gleichmut gegenüber den Unbillen des Lebens entfaltet sich auf harmonische und natürliche Weise, wenn du es mit der Praxis ernst meinst, also aufrichtig und beständig übst – am Besten für das Wohl aller fühlenden Wesen, denn sonst wird es uns schwer fallen durchzuhalten, wenn es unbequem wird.
Die Geburtsstunde der Praxis
The phenomenal world is by definition
a promise that is never kept.
Genau hier setzt die eigentliche Praxis ein: bei Schwierigkeiten, Problemen und Schmerzen, seien diese nun körperlicher, emotionaler oder geistiger Art. Toleranz spielt hier eine entscheidende Rolle, oder genauer: Resilienz. Wie tolerant bist du gegenüber Schmerzen körperlicher Art? Wie freundlich oder unfreundlich begegnest du dem groben oder ignoranten Verhalten eines Mitmenschen? Wie hoch ist dein Reaktions- und wie hoch dein Entschärf-Potential? Ständig nur angenehme Empfindungen erfahren zu wollen ist unrealistisch, ja regelrecht kindisch, naiv, unreif. Da wird gleich Alarmbereitschaft signalisiert und alles blitzschnell in die Wege geleitet, um ein etwaiges Problem zu lösen und aus der Welt zu schaffen, oft in der Geisteshaltung, dass so etwas in „meiner Welt“ nichts zu suchen hat. Wie unter Strom und gan aufgeladen rennen viele Menschen den Annehmlichkeiten hinterher und merken nicht, wie unannehmbar ihr Leben dadurch für sie selbst und andere wird. Der Trugschluss besteht meist darin, dass sie es einfach noch nicht vehement oder entschlossen genug versucht hätten. Sie sehen nicht ein, dass dieser Weg des Sich-Abstrampelns nichts bringt außer Stress und Dis-Ease, d.h. einer immer größer werdenden Entfernung zu echtem Genuss und wahrer Leichtigkeit.
In seinen Liedern erkenne ich mich selbst wieder.
Er spricht mir aus dem Herzen und weiß um die Bedeutung von Stille.
Wenn dann die Bedingungen und Umstände mal eintreffen, dass sich angenehme Empfindungen, Gefühle, Gedanken einstellen, dann wollen Menschen sie festhalten und gestehen ihnen nicht zu wieder zu vergehen, wie es nun einmal der Natur von bedingt entstandenen Phänomenen entspricht.
Wie oft muss der Mensch erleben, bis er begreift: Kein Gefühl besteht für immer. Keine Empfindung ist endgültig. Kein Gaumenkitzel und kein Orgasmus ist ewig. Das Nicht-Wahrhaben-Wollen dieser Tatsache und die Sucht nach immer neuen Sinneserfahrungen brachte Buddha dazu, folgendes auszusprechen, um damit auf die Entstehung von dukkha einzugehen:
Alles brennt. Das Auge brennt und alles Sichtbare brennt. Die Ohren brennen und die vernommenen Klänge, die Nase, die Zunge, der Körper und das Denken. Welches Feuer verzehrt sie? Es sind die Flammen der Gier, des Hasses, der Unwissenheit, es züngeln die Angst, die Eifersucht, der Verlust, der Verfall und der Kummer. Wer auf dem Weg der Mitte dieses Leid betrachtet, wird solcher Flammen überdrüssig; er wird der Gier und des Hasses müde, die ihn nach Anblicken, Klängen, Gerüchen, Geschmäckern jagen lassen, ob konkret oder in der Vorstellung. Sein Überdruss lässt ihn Abstand nehmen von dieser Jagd und dieses Loslassen macht ihn frei.
Ādittapariyāya Sutta
Wenn sich der Zustand des Geistes in Gleichmut auch wie Befreiung anfühlt und auch einige Merkmale der Befreiung mit sich bringt, so ist es doch ein bedingter Geisteszustand. Zugegeben, ein außergewöhnlicher, wundervoller Zustand. Doch vergänglich. Es muss also noch immer etwas tiefer erkannt werden. Wie in einer Spirale werden vorherige Erkenntnisse aufgehoben. Das ist durchaus im dreifachen Sinne Hegels zu verstehen: Erkenntnisse werden durch neue Erkenntnisse überlagert, relativiert und in gewisser Weise eliminiert; zugleich werden sie auf eine neue Ebene gehoben; und im Herzen als Erinnerung an einen Schatz tief empfundenen Friedens aufbewahrt.
Probleme tauchen auf – na klar! Bleib wachsam, Tiger. Beobachte die eigene Reaktivität. Erlebe und fühle die Reaktion mit deinem ganzen Sein. Zugleich aber: Lass dich nicht leiten von Impulsen, die dieser Reaktivität entspringen. Verhalte dich achtsam, wo du auch bist, was du auch tust. Sei wach wenn alles paletti ist. Sei wach, wenn’s ans Eingemachte geht. Bleib geduldig. Bleib geschmeidig. Bleib freundlich, besonders in Momenten, in denen dir nicht danach ist. Sei authentisch. Sei ehrlich. Leg alle Masken ab, die du dir im Lauf deines Lebens mühsam zugelegt hast oder unbemerkt hast aufschwatzen lassen. Stell Fragen statt Behauptungen aufzustellen.
Und vor allem: Sei nett zu dir selbst und atme tieeeeeeeeef, am besten in den Bauch!
Ein Kommentar zu “Wellen, Winde, Welten”