Es ist Zeit für eine tiefgehende Transformation des Einzelnen und der globalen Gemeinschaft fühlender Wesen. Die drohende Anpassung an eine »neue Normalität« mit ihren scheinbar notwendigen Zumutungen und normativen Zurichtungen ist in Wirklichkeit ein Weckruf, die bisherige Norm unserer atomisierten Gesellschaft nicht nur in ihrem Sosein, sondern auch in ihrem Gewordensein zu begreifen. Nur dann wird verhindert, dass ein althergebrachtes System in neuer Aufmachung mit dem politischen Banner der Veränderung aufrechterhalten werden kann.

Die Gesellschaft scheint gespalten zu sein:
Da sind diejenigen, die aus allen Wolken fallen, weil sie der Ansicht waren, dass es sich um ein relativ stabiles, gut funktionierendes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem handelte. Sie reagieren mit Angst um die Zukunft, da die Alternativen ihre Vorstellungskraft übersteigen.
Andere hingegen sehen die Krise als Zuspitzung einer Entwicklung, die sich seit mehreren Jahrzehnten abgezeichnet hat. Wieder andere reagieren mit Empörung, mit Wut, mit Widerstand, weil sie sich mit Gleichgesinnten zusammentun und sich innerhalb sozialer Blasen darin bestärken, dass der lock step eine weitere Phase eines Masterplans von deep state mit dem Ziel der schrittweisen Versklavung der Menschheit sei.
Sowohl Rezeption dieses Ereignisses als auch die Reaktion darauf sind Hinweise auf das Selbst- und Weltbild der Regierung und der Bevölkerung. Sie verdeutlichen die Relevanz bestimmter Bedürfnisse wie Nähe, Wärme, Umarmungen und die relative Bedeutungslosigkeit von Produktion, Vermarktung und Konsum. Das ist zumindest mein persönlicher Eindruck, wenn ich Menschen treffe. Wie einst Sokrates beim Vorübergehen an Verkaufsartikeln, so sagen auch heutzutage viele still bei sich: »Wie zahlreich doch die Dinge sind, deren ich nicht bedarf.« Vielleicht befinde ich mich auch selbst in einer der zuvor genannten sozialen Blasen. Vermutlich. Fest steht: Was zuvor normal war, erscheint heute absurd. Was heute absurd erscheint, könnte bald zur Normalität geworden sein – wenn sich nur genügend Menschen daran gewöhnt haben werden.
Wie groß ist der Spielraum menschlicher Kreativität?
Welche Grenzen sind dem menschlichen Denken gesetzt?
Warum findet Innovation stets außerhalb standardisierter Normen statt?
κρίσις (krísis) bedeutet ursprünglich Entscheidung, Beurteilung. Das zugehörige Verb κρίνειν (krínein) kann demnach mit urteilen, unterscheiden, trennen übersetzt werden. Krisen zeigen das wahre Gesicht einer menschlichen Gemeinschaft, weil sie einen Entscheidungspunkt darstellen und klarmachen, dass brennende Fragen des globalen Zusammenlebens beantwortet werden müssen. Krisen sind laut Ilija Trojanow auch immer zu sehen als Katalysatoren für utopisches Denken. Durch Krisen werden politische Machtansprüche, soziokulturelle Gewohnheiten, familiäre und gesellschaftliche Verhältnisse, kollektive Wertesysteme, Nachbarschaft und Freundschaft auf den Prüfstand gestellt.
Wie lässt sich verhindern, dass Menschen weiterhin einem System der systematischen Ausbeutung dienen, dass sich Nützlichkeitsdenken, Lohnsklaverei und Konflikt im Innen- und Außenleben fortsetzen? Ich bin überzeugt, dass eine wahrhaftige, tragfähige, solide Veränderung ihren Ursprung im Inneren des Einzelnen nehmen muss; dass Selbstermächtigung und Selbstverantwortung und Selbstvertrauen uns den Weg weisen zu einer lebenswerten Welt, die wir miteinander gestalten; dass ein Wiederaufleben authentischer Spiritualität die Einsicht bringt, dass wir alle eins sind und Kriegführen auf Kranksein hinweist. Und ich bin überzeugt, dass das Empfangen und Ausführen von Befehlen ein Maschinenmodell des Menschen realisiert, das bereits bei seiner Entstehung im 17. Jahrhundert einem linearen Denken entsprang. Dieses lineare Denken gilt es heute mehr denn je zu überwinden. Wie Fabian Scheidler in seiner ausgezeichneten Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge erläutert, »verstellt das lineare Denken, so nützlich es in der Welt der unbelebten Materie auch sein mag, den Blick auf die Wirklichkeit der lebendigen Welt. In dem Maße, wie durch die Ausübung von Macht vorhersagbares Verhalten bei Befehlsempfängern erzeugt wird, nehmen auf der anderen Seite unerklärliche, ‚irrationale‘ Verhaltensweisen überhand, über die sich Psychologen, Soziologen und Pädagogen den Kopf zerbrechen.«1
1 Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine – Geschichte einer scheiternden Zivilisation (2015), S. 19.
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