Das Erbe der Wolfsmoral

Warum fällt es uns so schwer, an Alternativen zu glauben? Warum haben Anarchie und Utopie einen so schlechten Ruf? Statt an den entleerten Worthülsen zu kleben, müssen wir uns an grundlegende Wahrheiten erinnern und daran was es heißt Mensch zu sein. Also kehren wir zurück an den Ursprung des Ursprungs des Ursprungs des Ursprungs, zurück an den sogenannten Eisprung des Ursprungs…1

Jedes Morgen ist immer auch ein U-Topos,
also ein Ort, an dem wir heute noch nicht sind.
Und An-Archie steht für Abwesenheit von Herrschaft,
also für Freiheit verantwortungsvoller Menschen.

Christian Felber (in: schrot&korn, 05/2020, S. 57)

Allgemeines & Partikulares

Eine der Ursachen unseres inneren Widerstands gegen Neuerungen scheint eng mit unserer kulturellen Identität verknüpft zu sein. Die meisten Menschen wünschen sich von Herzen eine gerechte, friedliche und harmonische Welt. Doch nur wenige sind bereit, ihre persönlichen Ansprüche an die Welt zurück zu nehmen. An mir soll’s nicht liegen… höre ich manchmal – ja, wieso denn nicht?! An wem – wenn nicht an dir? Das klingt nach Voreingenommenheit. Ich halte anscheinend nicht besonders viel von anderen Menschen. Und ich schätze, damit bin ich nicht allein. Ich glaube nämlich, dass die meisten Menschen glauben, an ihnen läge es ja gar nicht, doch andere seien einfach nicht bereit für ein bedingungsloses Grundeinkommen, für ein Leben in verantwortungsvoller Freiheit (ja, das Eine bedingt das Andere!), für eine Umwertung aller Werte, für eine spirituelle Transformation der gesamten Gesellschaft.

Jeder Mensch hält sich selbst für intelligenter als andere und die größten Deppen sind vollkommen überzeugt davon, sie seien die Klügsten. Die Allerklügsten werden Politiker. Doch du kannst dir sicher sein: Politik kümmert sich um nichts Anderes als um Politik. Sie kümmert sich nicht um Menschen – nicht wirklich. Nein, darin besteht nicht das Tagesgeschäft. In einer repräsentativen Demokratie stellen wir als Wählerschaft lediglich die mit Hilfe von Lockmitteln verführte Legitimationsgrundlage der Existenz eines Menschen dar, der dann Zugang zu Kameras und Megaphonen, Hairstylisten und teurer Kleidung hat. Ist es nicht so? Mir jedenfalls erscheint Politik als Spiegel unserer eigenen engstirnigen, egoistischen, kurzsichtigen Geisteshaltung. Es wird zunehmend klar, dass das eigentliche politische Feld nicht in der Welt und schon gar nicht in den immer wiederkehrenden Werbekampagnen von Berufspolitikern zu verorten ist.

Jeder einzelne Mensch ist das politische Feld – hier, im Persönlichen muss geackert und verdaut werden. Was deine Sinne aufnehmen und welche Geschichten du dir erzählst über dein Leben und das Leben anderer erreicht mittels deiner Ausstrahlung die Sinne anderer Menschen und Tiere. Versuche nicht etwas vorzugeben, das du nicht bist, denn du kannst andere nur so weit täuschen als du selbst einer Selbsttäuschung unterliegst. Und hör auf, vor den möglichen Folgen deiner Taten zurückzuschrecken, denn du kannst unmöglich bestimmen wie andere auf dein Verhalten reagieren werden. Alles was nach außen durchdringt erzeugt im Kontext alltäglichen Handelns im allerbesten Fall starke Synergien mit Mitmenschen. Ereignisse im Leben zeigen eine erstaunliche Synchronizität sobald du ein Bewusstsein für Synchronizität entwickelst. Erhebende Synthesen von Chaos & Ordnung, von Wollen & Lassen, Leidenschaft & Distanz ergeben sich von selbst, wenn du nur Gesundheit & Krankheit, Frieden & Krieg, Himmel & Erde, Leben & Tod nicht mehr als einander wechselseitig ausschließende Gegensätze betrachtest. Paradoxien heben sich stets in einer größeren Einheit auf.

Die wichtigste politische Aktivität eines Menschen liegt in der Bemühung und Bereitschaft, das eigene Bewusstsein zu erweitern und hinsichtlich der eigenen Eingebundenheit in ein größeres Ganzes im Klaren zu sein. Ich bin überzeugt, dass abseits von Kameras und Megaphonen, jenseits des Mainstreams, ein großes Erwachen stattfindet. Die Zeichen der Zeit werden zu offensichtlich, um sie noch übersehen, absichtlich darüber hinwegsehen oder auf zynische Weise der deterministischen Wolfsnatur des Menschen zuschreiben zu können.


Vom Gesellschaftsvertrag der Maschinenmenschen

Die industrialisierte Zivilisation wird seit einigen Jahrhunderten durch eine bestimmte Grundhaltung in ihrem Wahn bestärkt alles richtig zu machen und in der Folge angetrieben, die planetare Arbeitsmaschinerie und das Wertsystem, das dieser zugrunde liegt, in alle Welt zu exportieren. Diese Einstellung beruht u.a. auf der allgemeinen Anbetung des Mammon und fragmentiert das Dasein, entfremdet den Menschen von sich selbst und von der Natur und verhindert, die wechselseitige Verbundenheit alles Seienden aktiv wahrzunehmen und sich dieser Einsicht entsprechend zu verhalten. Das Bewusstsein, dass wir aufeinander angewiesen sind und dass wir alle aufeinander bezogen sind, geht verloren; und zwar umso mehr, als Argwohn und Misstrauen gegenüber den Absichten der Mitmenschen sich breitmachen und die Bedeutung dessen, was es heißt ein Mensch zu sein, verzerren. Dieser zügellose, ungehemmte Argwohn, dass der andere mir etwas zuleide tun könnte, hat etwas zutiefst Häßliches und Trauriges.

Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass sich durch diese Einstellung das Selbstbild des Menschen so stark eingeschränkt hat, dass wir das, was uns als Menschen einzigartig sein lässt – unser unbegrenztes Potenzial für Liebe, Fürsorge, Mitgefühl – verkümmern lassen. Stattdessen schalten wir individuell und kollektiv in einen Überlebensmodus (survival mode). In diesem zählt einzig und allein das körperliche Überleben. In der Folge fallen wir einer selbsterfüllenden Prophezeiung zum Opfer, wenn private und öffentliche Präventivkriege geführt werden oder dem Macht- und Wettbewerbsstreben oberste Priorität eingeräumt werden weil uns sonst der Andere überholt, aussticht, überfällt, ausraubt, niedermacht. Noch dazu handelt es sich um einen Glaubenssatz, der auf einer verkürzten Rezeption der Quelle beruht, wie wir noch sehen werden. Ursprünglich vom Komödiendichter Plautus (254-184 v.Chr.) verwendet, um in seiner Komödie Asinaria (Eseleien) einen Kaufmann zu Leonida sagen zu lassen: »lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.« Übersetzt:

Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch,
solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.

Zunächst einmal: Warum ein Wolf? Wie sind Wölfe? Ich denke dabei an Die Wolfsfrau (orig. Women Who Run With the Wolves: Myths and Stories of the Wild Woman Archetype) von Clarissa Pinkola Estés: Die unbändige wilde Natur der Frau, wenn sie wirklich und wahrhaftig zu sich selbst steht und in ihre Kraft kommt, dargestellt anhand von mündlich überlieferten Geschichten und psychoanalytischen Betrachtungen. Dieses Buch ist heute immer noch immens wichtig für Frauen und Männer. Dann natürlich Kevin Costners Regiedebüt Der mit dem Wolf tanzt (orig. He Who Dances with Wolves), dessen Botschaft die Versöhnung mit den Ureinwohnern des Neuen Kontinents ist. Es gibt zahlreiche Bücher und Filme, die vermitteln, wie viel der Mensch von Wölfen lernen kann – über Vertrauen, Treue, Mut, Leben, Glück.

Lassen wir also für den Moment mal die Annahme beiseite, dass der Wolf eine grausame Bestie ist, die sich in einem dunklen Märchenwald versteckt und kleine Kinder auffrisst, die auf dem Weg zur Großmutter sind. Auch die Abbildung kultureller Voreingenommenheiten in Kino und Fernsehen, wenn Wölfe über Menschen herfallen, die sich einen Weg durch die Wildnis schlagen. Lassen wir die blind übernommenen Glaubenssätze mal für den Moment beiseite und versuchen wir uns zu erinnern, wann sich zuletzt ein konkreter Mensch uns gegenüber »wie ein Wolf« verhalten hat. Wann sind wir zuletzt mit einem echten lebendigen Menschen »wie ein Wolf« umgegangen?

Wenn wir das eigene Denken und Verhalten
mit dem homo homini lupus-Satz rechtfertigen,
dann vergessen wir Ursprung und Kontext dieses Satzes.

Es war Thomas Hobbes, der den Grundstein für einen in unserer Kultur vorherrschenden Glaubenssatz, nämlich: dass es einen Staat mit absoluter Machtbefugnis braucht. Die Einrichtung des Staates, der Gesellschaftsvertrag sowie der Prozess der Arbeitsteilung blieben nicht ohne Folgen für die Machttriade von Technologie-Wirtschaft-Politik. Neben Francis Bacon und René Descartes, Adam Smith und John Locke war Thomas Hobbes zweifellos einer der Wegbereiter der Aufklärung, des Fortschrittsglaubens und der erbarmungslosen Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen. Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Sichtweise sich nach einem Paradigma ausrichtet, das heute wie im 17. Jahrhundert einer materialistischen Grundhaltung Vorschub leistet.

Staatstheoretiker der frühen Neuzeit wie Thomas Hobbes behaupteten, dass die physische Macht des Staates notwendig sei, um den »Krieg aller gegen alle«, wie er im »Naturzustand« herrsche, zu zähmen – und dass es daher für alle vernünftig sei, dem Gewaltmonopol des Staates zuzustimmen. Doch solche Vertragstheorien haben einen Haken: Die Gründung eines Staates aus diesen Motiven ist noch nirgendwo beobachtet worden. Und auch einen »Naturzustand«, in dem alle gegeneinnder Krieg führen, gab es in der Menschheitsgeschichte nicht.

Im Gegenteil, die systematische Gewaltanwendung nimmt mit der Entstehung von staatlicher Macht in Form von Armeen und Polizeikräften zu, nicht ab.

Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine (2015), S. 14

Das Modell von Thomas Hobbes beruht auf dem Ansatz, dass der Mensch im Grunde eine Maschine sei. Deren Funktionsweise sei der Bemühung unterworfen, Vergnügen zu empfinden und Schmerzen zu vermeiden. Seit dem Erscheinungsjahr 1651 hat die Vision des Leviathan das Antlitz der Erde verwandelt. Der Mensch ward dem animalischen Lust-/Unlust-Prinzip gleichgestellt, um ein staatliches Gewaltmonopol zu etablieren, das ihn vor sich selbst schützen sollte. Und man kann es Hobbes nicht mal anlasten. Denn schließlich bildete er einfach seine Weltanschauung ab, die sich gemäß seinem Charakter, Erfahrungsschatz und Wissensstand ausgeformt hatte. So sah nun mal seine Welt aus, die ganz stark von seiner Erfahrung des Englischen Bürgerkrieges (1642-1649) geprägt war: Leviathan (Staat) gegen Behemoth (Menschennatur). Darüber hinaus wird oft übersehen, dass sich die Bedeutung des Diktums, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, auf die Beziehung der Staaten untereinander und ihre kriegerischen Auseinandersetzungen beschränkt. Das Zitat stammt aus der Widmung von Hobbes‘ Werk De Cive (1642):

Nun sind sicher beide Sätze wahr:
Der Mensch ist ein Gott für den Menschen,
und:
Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen;
jener, wenn man die Bürger untereinander,
dieser, wenn man die Staaten untereinander vergleicht.

Hobbes Leviathan Frontispiz

Frontispiz von Hobbes’ Leviathan.

Zu sehen ist der Souverän, der über Land, Städte und deren Bewohner herrscht. Sein Körper besteht aus den Menschen, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben. In seinen Händen hält er Schwert und Krummstab, die Zeichen für weltliche und geistliche Macht.

Überschrieben ist die Abbildung durch ein Zitat aus dem Buch Hiob (41,25): „Keine Macht auf Erden ist mit der seinen vergleichbar“.

Quelle: Wikipedia


Kali Yuga

Just in der Epoche, in der der Mensch sich selbst als Maschine auffasste, wurde allen anderen Tieren ebenso die Seele abgesprochen und dieser Mangel als weitere Rechtfertigung genommen, sie auszubeuten, zu foltern und für die eignen Zwecke einzuspannen – ganz so wie man mit der Natur qua Natur umging.2

Was sinnlich wahrnehmbar war, war messbar;
was messbar war, wurde fortan gemessen;
was nicht messbar war, existierte per definionem nicht.

Der wissenschaftliche Raster (scientific grid) legte sich über die erfahrbare Wirklichkeit. Was die Welt in ihrer physis ausmacht, wurde analysiert, strukturiert, katalogisiert und instrumentalisiert. Die Philosophie, im Mittelalter die Magd der Theologie, wurde mit der Ankunft wissenschaftlicher Methodologie als Betrachtungsfeld unterschiedlichster Gattungen wie Mathematik, Geometrie, Physik, Moral usw. angesehen. Mit der Abspaltung der Fachwissenschaften wurde die Metaphysik ins Reich der Philosophie, die Liebe zur Weisheit zunehmend in den Bereich der Spekulation gedrängt bis schließlich heutzutage Philosophie als Spekulation zwar in vielen Kreisen als unterhaltsam betrachtet, zugleich aber als unwissenschaftlich und somit als unnütze Zeitverschwendung stigmatisiert wird.

Die Rationalisierung (lat. ratio, d.h. Verhältnis: wie viel x erhält man für y?) reduziert im Zusammenhang mit dem Machbarkeitswahn in rasendem Tempo die weltweite Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt. Ebenso hängt die Verringerung der Sortenvielfalt sowie die Vereinheitlichung der Nahrungsmittel mit der flächendeckenden Monokultur-Mentalität der Menschheit zusammen.

Nicht zuletzt ist es der Umgang der Menschen untereinander, der durch die Identifikation mit professionellen Masken, Betriebsfunktionen und gewissenloser Gleichschaltung leidet und mit der Zeit die Ausrichtung des Denkens und Handelns in lineare Einbahnen und Sackgassen lenkt. Oberflächlich betrachtet scheint es tatsächlich so zu sein, dass Menschen im 21. Jahrhundert nach wie vor die List der wilden Tiere zu Hilfe nehmen müssen, um sich selbst zu schützen. Wir sind heute so weit davon entfernt wie noch nie, die Einheit mit der Natur wahrzunehmen, und ja – unsere Endlichkeit als Wahrheit anzunehmen. Vielleicht ist das alles auch zu pessimistisch. Ich hoffe es. Ich wünsche mir so sehr, dass dies die dunkelste Stunde vor dem Sonnenaufgang ist.


https://www.youtube.com/watch?v=pUY0VlnVhiU

Verfolg in Liebe all die Ziele die du gut nennst
Doch geh nie gegen dein eigenes Blut Mensch
Denn du irrst wenn du denkst hier steht jeder für sich
Was gegen uns geht geht gegen dich
An jedem Start ist ne Ziellinie
und wir sind alle gleich weit
und aus einer Familie


Nacktes Überleben oder Gutes Leben

Im Leviathan verlangte Hobbes nach einem Staat, der mit absoluter Macht verhindern sollte, dass sich die »Untertanen« des uneingeschränkt herrschenden Souveräns gegenseitig die Köpfe einschlagen. Doch Menschen tun dies nicht freiwillig. Es sind Führungspersönlichkeiten wie Alexander der Große, Caesar, Cato, die sich ihrer Raubtiernatur und ihren Machtgelüsten hingeben und ihrem Hass die Zügel schießen lassen, um das eigene Volk mit Befehlen gegen ein anderes aufzuhetzen. Dabei appellieren sie fast immer an den Selbsterhaltungstrieb und an die Angst der Menschen. Oft hat jedoch der Große selbst die meiste Angst um die Erhaltung seiner Machtposition. »Quis custodiet ipsos custodes?«Wer wird über die Wächter wachen?, fragte Juvenal daher zurecht. Zwischenmenschliche Beziehungen und Staatsbeziehungen müssen also unbedingt differenziert werden…

Dort nähert man sich durch Gerechtigkeit, Liebe und alle Tugenden des Friedens der Ähnlichkeit mit Gott; hier müssen selbst die Guten bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und die List, d.h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe nehmen.

Thomas Hobbes: Widmung an Grafen Wilhelm von Devonshire, De Cive (1642)

Die Idee, dass wir uns voreinander schützen müssen, ist nachvollziehbar, wenn man sich bewusst macht, dass Hobbes den aristotelischen Grundsatz, der Mensch sei ein zoon politikon, negierte. Er meinte, der Mensch strebe nicht von Natur aus nach Gesellschaft; im Gegenteil: den von ihm postulierten »Naturzustand« der menschlichen Gesellschaft sah Hobbes im »Krieg aller gegen alle« (bellum omnium contra omnes). Die Etablierung des allmächtigen Leviathan hatte die Überwindung der Furcht vor wirklichen und eingebildeten Gefahren und das nackte Überleben als Ziel. Bei Aristoteles hingegen ging es um eudaimonia, d.h. um Glückseligkeit, um die Freundschaft, um die Gemeinschaft, das gute Leben.

Es macht also Sinn, dass Hobbes‘ neuzeitliche Auffassung von Mensch und Natur „ein Angriff auf die Vorstellung war, die Gesellschaft beruhe auf früheren Bindungen der gemeinschaftlichen Solidarität.“3 David Graeber spricht damit die sozialen Bindungen und Vertrauensbündnisse an, die zwischen Mitgliedern der Dorfgemeinschaften bestanden. Die Menschen glaubten aneinander (lat. credit = er/sie glaubt) und gewährten einander im Vertrauen Kredit, wenn jemand Waren oder Dienste in Anspruch nahm. Nur selten tauschten sie Kartoffeln gegen Schuhe oder Getreide gegen Tierfelle. Es braucht schon eine rege Phantasie, sich ein solch krudes Tauschsystem überhaupt vorzustellen, das es in Wirklichkeit so niemals gab. (not bad, Adam!)

Tatsächlich wurde im Großen und Ganzen jeder nach seinen Fähigkeiten eingesetzt und jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben. Um die zwischenmenschliche Beziehung aufrecht zu erhalten war es durchaus üblich, ein bisschen mehr zu geben als man zuvor bekommen hatte. Man kannte sich, also wurde kaum sofort bezahlt, eher wurde angeschrieben. Durch wechselseitige Vertrauensverhältnisse entstanden auf diese Art und Weise Gemeinschaften, die auf mehr basierten als auf dem bloßen Austausch von Gütern und Dienstleistungen. Zurückzugeben was man bekommen hat, oder den genauen Wert einer Gabe zu ermessen und zurückzugeben wäre gleichbedeutend gewesen mit der Aufkündigung der Handelsbeziehung, in manchen Fällen sogar der Freundschaft.

Auch wenn es keine Gesellschaft gibt, die vollkommen kommunistisch lebt, so liegt doch das Prinzip „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ einer großen Anzahl alltäglicher Tätigkeiten zugrunde. Intern kommunizieren und arbeiten auch kapitalistische Unternehmen auf kommunistische Art und Weise. Überall da, wo effizient und nicht hierarchisch gearbeitet wird, wo kooperiert statt taktiert wird, wo improvisiert und nicht nach dem eigenen Vorteil geschielt wird, da erleben wir Kommunismus im weitesten Sinne. Wir kennen dieses Phänomen sehr gut: Bei Naturkatastrophen handeln Menschen oft auf diese Weise, denn Hierarchien und Märkte erscheinen dann als Luxus, den sich die Gemeinschaft absolut nicht leisten kann. Im Grunde lässt sich sagen, dass Kommunismus das Fundament des menschlichen Zusammenlebens darstellt. Auf dieser grundsätzlichen kooperativen Bereitschaft – und auf der unentgeltlichen Tätigkeit unzähliger Frauen im Haushalt – baut der Kapitalismus auch heute noch auf.

Die eigentliche Frage lautet jetzt, wie wir die Maschine ein wenig drosseln und eine Gesellschaft schaffen können, in der die Menschen weniger arbeiten und mehr leben können. Daher möchte ich ein gutes Wort für die untüchtigen Armen einlegen. Denn zumindest schaden sie niemandem. Wenn sie die Zeit, die sie sich frei nehmen, mit ihren Freunden und ihrer Familie verbringen und sich um die Menschen kümmern, die sie lieben, tragen sie vermutlich mehr zu einer besseren Welt bei, als uns bewusst ist. Wir sollten sie als Vorreiter einer neuen Wirtschaftsordnung betrachten, die weniger als die gegenwärtige darauf versessen ist, sich selbst zu zerstören.

David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre (2014), S. 495

1 Käptn Peng: Sockosophie
2 Robin G. Collingwood: Die Idee der Natur (1945)
3 David Graeber: Schulden (2014), S. 420


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