What makes Sammy run
In einem Interview mit Brian Rose spricht Sadhguru darüber, dass ein sogenanntes gutes Leben nicht mehr bloß bedeutet gesund zu sein, gut zu schlafen und zu essen. Heutzutage besteht das vermeintliche Glück des postmodernen Individuums vielmehr darin, es zumindest ein Stückchen besser zu haben als der Nachbar, oder eben ein bisschen besser zu sein als gestern. Der ständige Vergleich mit anderen und mit sich selbst trägt erheblich zur Beschleunigung des eigenen Lebens-Ablaufs bei. Allein aufgrund dieser vor-gestellten, d.h. vor die-lebendige-Erfahrung-des-Daseins-als-Mensch gestellten Zielvorgabe können Menschen niemals wirklich vollkommen entspannen.
Früher hieß es keep up with the Joneses – es nie schlechter haben als die von nebenan. Heute heißt es keep up with yourself – immer etwas besser sein als gestern. Diese Einstellung hinterlässt Spuren. Die Symptome auf individueller und gesellschaftlicher Ebene wurden aus soziologischer, philosophischer und psychologischer Perspektive z.B. von Alain Ehrenberg in Das erschöpfte Selbst (2008), von Byung-Chul Han in seinem Buch Müdigkeitsgesellschaft (2010) sowie von Hartmut Rosa in Beschleunigung und Entfremdung (2013) dargestellt. Das ist kein vollkommen neues Phänomen. Schon 1941 hat Budd Schulberg mit What Makes Sammy Run einen Roman verfasst, dessen Protagonist ständig außer Atem ist. Wenn der Gedanke auftaucht, du seist »zu langsam« oder »du kommst nicht mehr mit«, dann empfehle ich die Lektüre dieser Bücher. Indem sie dazu beitragen, die zugrundeliegenden Strukturen der automatisierten Prozesse unserer Arbeitswelt und Freizeitgestaltungsoptionen aufzuzeigen, wirken sie wie Balsam auf die Seele jener Wunden, die wir uns selbst und anderen scheinbar grundlos zufügen.
Commonly we say we are this or that just because in any society it is expedient to identify with names and occupations. But we must not believe that we really are this or that; as is assumed on the level of relative truth.
Bhikkhu Buddhādasa
To do so is to behave like crickets, which, when their faces become covered with dirt, become disoriented and muddled and bite each other until they die.
Wie so vieles haben Menschen in Europa auch den Mythos »vom Tellerwäscher zum Millionär« (from rags to riches) übernommen. Selbstoptimierung, Selbstdisziplinierung bis hin zur Selbstausbeutung sind zu Faktoren des Turbokapitalismus geworden, die wesentlich zum reibungslosen Funktionieren der von Fabian Scheidler so eindrucksvoll beschriebenen Megamaschine beitragen. Die Mehrheit der Menschen ist fest überzeugt, dass am Ende ihrer Anstrengungen etwas Großartiges auf sie wartet, bei dessen Erreichen schließlich Ziel und Zweck der eigenen Lebensreise erfüllt würden. In Wirklichkeit aber gleicht das Leben einem Spiel, ja das Leben ist wie Tanz. Leben ist wie Musik. Und die Kunst besteht darin, das Leben so zu leben wie wir spielen oder tanzen.
Mein Leben und Ich
Wie mit dem Leben selbst, so steht es auch ums Ego. Ich nehme an, dass viele Anstrengungen, um das eigene Leben – schließlich handelt es sich um Mein Leben – zu verbessern, damit zusammenhängen, das Ego verbessern zu wollen, und umgekehrt, zahlreiche Bemühungen, sich selbst – denn Ego bedeutet schließlich Ich – aufzuwerten, in engem Zusammenhang damit stehen, ein besseres Leben führen zu wollen, und sei es bloß in den Augen anderer. Die Furcht, nicht gut genug zu sein; die Ungewissheit, ob die eigenen Bemühungen Früchte tragen; die Scham, den eigenen Standards nicht zu genügen – all das zeigt eine zu starke Identifikation mit dem Ego.
Gründet das Ego womöglich nur in solchen Befürchtungen und wird durch Reaktionsmuster auf uneingestandene Ängste und Sorgen aufrecht erhalten? Ist es das, was uns antreibt, was uns unentwegt beschleunigt? Ist es das Ego, das wir in anderen vor allem in Situationen wiedererkennen, in denen die eigenen Interessen durchkreuzt werden? Und worin bestehen die zuvor angesprochenen Standards, nach denen wir unser Denken und Handeln ausrichten? Sind sie nicht oft von Eltern, Mentoren, von Gesellschaft und Medien übernommen worden? Wie oft überprüfen wir die eigenen Überzeugungen und Haltungen? Inwiefern verhindert die Abhängigkeit von der Meinung anderer, dass ich das, was in mir schlummert, hervorbringe und mit der Welt teile?
Most successful people are people you’ve never heard of. They want it that way.
Ryan Holiday, Ego is the Enemy
It keeps them sober.
It helps them do their jobs.
Wie rasch doch etwas als gut oder schlecht bezeichnet wird, bloß weil es mir gerade gefällt oder nicht gefällt! Aus dem persönlichen Kreislauf des willkürlichen Beurteilens auszusteigen bedeutet, angelernte Bewertungs- und Reaktionsmuster in Frage zu stellen. Statt bloß die Symptome der Kollektivneurose mit Hilfe von medikamentös unterstützter Arbeitswut für eine begrenzte Zeitspanne zu dämpfen oder zu unterdrücken, bedarf es einer ehrlichen Bestandsaufnahme des eigenen Lebens und der Rolle des Egos in deinem Leben.
Um nicht falsch verstanden zu werden – das Ego ist nicht schlecht. Es ist nicht gut. Es ist an sich weder/noch & sowohl-als-auch. Das in spirituellen Kreisen so oft postulierte Ziel, das Ego loszuwerden, ist ein endloses und sinnloses Unterfangen. Das Ego ist kein einzelnes Ding, sondern eine unüberschaubare Vielfalt geistiger Aktivitäten und Funktionen. Bei entsprechendem Entwicklungsstand hat das Ego die Fähigkeit, das Leben zu vereinfachen und Gaia zu gestalten. Doch zumeist wird es für kurzsichtige Zwecke eingespannt, verkrampft sich, kämpft gegen imaginäre Feinde und fürchtet sich vor dem Ende, dem Tod. So viele Dinge müssen noch erledigt, so viele Ziele erreicht werden… bevor die letzte Stunde schlägt. All die Versuche des Erledigens und Sich-Entledigens, die mit der Welt vergänglicher Erscheinungen zu tun haben, gehen auf Kosten eines mühelosen Gewahrseins der ewigen Gegenwart.
Es ist stets die den Handlungen in Gedanken, Worten und Taten zu Grunde liegende Absicht, die Wirkungen zeitigt. So verhält es sich auch mit dem Ego – die Absicht weist in die Richtung, in die das Leben zeigt. So wie Kompost die schönste Blumenpracht hervorzaubern kann, so wie der Pfau das Gift in ein bunt schillerndes Federkleid verwandeln kann, so wie der Lotus im Schlamm heranwächst und in seiner Vollkommenheit schließlich jegliches Wasser und allen Schmutz abperlen lässt, so ist auch der Mensch imstande, sich von den Unannehmlichkeiten und scheinbaren Negativitäten inspirieren zu lassen. Künstlerischer Ausdruck, übersprudelnde Kreativität, unvoreingenommener Entdeckergeist sind ebenso wie Altruismus, Antizipation, Sublimierung und Humor Zeichen eines reifen und gesunden Egos, das sich der eigenen Triebe und des eigenen Verlangens bewusst ist. Die Vermittlung zwischen rohem Verlangen und moralischem Kodex, zwischen Opportunismus und Loyalität, zwischen Wille und Verantwortung geschieht durch ein bewusstes und starkes Ego. Die Dinge sind nicht wie sie zu sein vorgeben. Sie sind nicht so starr und fix wie sie aussehen. Die Angst des Egos vor der Meinung anderer gleicht der Bedrohung durch eine gefährlich aussehende Tarantel ohne Giftzähne.
Die Versuchung ist groß, nach auftauchenden Gedanken zu haschen und sie persönlich zu nehmen, sich an schmerzhafte Ereignisse zu erinnern, sich für vergangene Handlungen zu verurteilen usw. usf. Auch das ist ein Spiel, das das Ego mit sich selbst spielt. Es ist ein Spiel, das von Verlusten, von Mangel und von Reue handelt. Vor allem Reue ist ein karger Planet ohne Nahrung und Wasser, auf dem niemand freiwillig leben würde. Etwas, das nicht mehr veränderbar ist, und das unwiderruflich vorbei ist, ändern zu wollen: welche Qual könnte größer sein? Deshalb, wie Pema Chödrön so schön sagt: »Beginne wo du bist!«
»Aber wie?« höre ich dich fragen.
Eine Geschichte mag illustrieren, wie einfach es sein kann.
Eine Königin wollte wissen, wer der weiseste Mann im Königinnenreich sei. Ein Mann wurde eingesperrt in eine Zelle. In dieser Zelle befand sich eine schwere Tür aus Stahl mit einem sehr komplizierten Mechanismus. Einige Männer probierten zunächst, das Schloss zu knacken und auf diese Weise zu entkommen. Doch keiner von ihnen schaffte es. Dann wird ein Mann eingelocht. Er setzt sich gegenüber von der Tür auf den Boden und verweilt dort für einige Zeit. Er lehnt sich an die Wand und betrachtet die Tür. Dann steht er auf. Geht zur Tür und probiert die Türklinke. So einfach – die Tür öffnet sich. Niemals kam jemand vor ihm auf die Idee, sich die Tür genauer anzusehen. Alle waren auf das Schloss fixiert und versuchten, den komplizierten Mechanismus zu lösen.
Ein Kommentar zu “Das Leben ist keine Reise”