Schon die alten Griechen sprachen und schrieben im Kontext von menschlicher Wahrnehmung, Gedächtnis und Seele von wachsüberzogenen Schreibtafeln. Auf diesen prägen Sinneserfahrungen sich wie Abdrücke ein. Zu Beginn des Lebens seien diese Tafeln leer – daher der lateinische Ausdruck tabula rasa. So sahen es u.a. Aischylos, Platon und Aristoteles. Francis Bacon und John Locke haben im 16. und 17. Jahrhundert diese Vorstellung übernommen und in ihre materialistischen Programme integriert. Zuletzt hat Steven Pinker mit seinem Werk Das Unbeschriebene Blatt die Komplexität der menschlichen Natur jenseits binärer Nature/Nurture-Muster wissenschaftlich untermauert.
In diesem Artikel eröffne ich Perspektiven, die sich am Konzept einer tabula rasa orientieren; Perspektiven, wie sie weder in der Liebe zur Weisheit des antiken Griechenland noch in der von Naturbeherrschung und Bürgerkrieg geprägten Neuzeit und genauso wenig durch die von Pinker zurückgewiesenen extremen Einstellungen (biologischer Determinismus vs. Sozialkonstruktivismus) eingenommen wurden.
Im Zuge meiner Darstellung möchte ich mich auf zwei parallel verlaufende Argumentationsgrundlagen stützen: Einerseits lassen sich die Übergange zwischen den unterschiedlichen Bewusstseinszuständen von Wachen und Träumen als einander ergänzende Zeit–Punkte des Neuanfangs auffassen. Die Zeit, die wir schlafend verbringen, werden vom Körper durchgehend Sinneseindrücke empfunden, doch von keinem entsprechenden Sinnes-Bewusstsein wahrgenommen. Die persona (lat. Maske, Rolle, Person) ist abwesend. Sie ist nicht präsent (lat. praesens: gegenwärtig; wirksam, auch: entschlossen, furchtlos). Menschen wälzen sich also im Schlaf hin und her, sobald bestimmte Empfindungen den Körper heimsuchen – ganz so wie im alltäglichen Wachbewusstseinszustand Reaktionen gemäß gewohnter Automatismen stattfinden. (Ab und zu werden auch Klänge und Töne in den Ablauf eines Traums integriert. Die Luftzufuhr, die Temperatur im Raum, die Lichtverhältnisse, die Härte der Liegestatt, all das hat Auswirkungen auf die Qualität des Schlafens und des Träumens ebenso wie das, welches die letzte Tätigkeit vor dem Schließen der Augen ist.) Erst neulich erzählte mir jemand, sie habe sich im Laufe der Nacht um 180 Grad gedreht und sei in der Früh mit dem Kopf am Fußende munter geworden. Der Körper wurde bewegt, doch da war kein Beweger. Es wurde geschnarcht, doch es gab keinen Schnarcher. All das ist hinzugedichtet, und so wird aus dem Nichts mittels Worten eine Scheinwirklichkeit erschaffen. Das Leben entlang von Glaubenssätzen, die sich aufgrund dieser Scheinwirklichkeit ergeben, vergleiche ich mit Schlaf. Es ist das gedankenverlorene Fallen ins Damals und ins Nochnicht, das sich ähnlich anfühlt wie wenn du zu lange der prallen Sonne ausgesetzt warst. Das Erkennen der Scheinwirklichkeit und das Erwachen aus den eingefahrenen gewohnten Reaktionsmustern assoziiere ich mit Wachen. Mit der Relation von tatsächlichem und sinnbildlichem Wachen und Schlafen gelangen wir zur zweiten Grundlage. In der Einsicht, dass es sich bei jedem neuen Tag um einen Neubeginn handelt und jedes In-den-Schlaf-fallen ein kleiner Ego-Tod ist, verbirgt sich noch eine weitere Einsicht: dass nämlich jeder Augenblick ein Neubeginn ist, in dem jede Zelle des Körpers auf Grundlage der alten Konfiguration wieder geboren wird. So verhält es sich auch mit Gefühl, Wahrnehmung, Reaktion, Bewusstsein. Die persona (lat. Maske) wird in jedem Moment aufgrund der momentan vorherrschenden Bedingungen neu geboren. In buddhistischer Terminologie werden die soeben genannten Komponenten einer Person skandhas genannt. Skandha bedeutet Haufen bzw. Anhäufung. Woraus bestehen die Haufen? Aus Seifenblasen, Schaum, Illusionen. So wie Atome (altgr. ἄτομος, á-tomos, unteilbar) grundsätzlich leer sind von jeglicher inhärenter Natur, so sind auch die Bausteine der Person leer. Was sie wirklich erscheinen lässt, ist lediglich die bewusste/unbewusste Identifikation mit der zusammen gesetzten Schaum und der Annahme, dass mit der Verleihung eines Namens das benannte Ding Wirklichkeit wird – im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort… und das Wort ward Fleisch. (Joh 1,1; Joh 1,14)
Wachen und Träumen
Ein Mensch träumt davon, ein Schmetterling zu sein. Er wacht auf und fragt sich, ob er nicht in Wirklichkeit ein Schmetterling ist, der davon träumt, ein Mensch zu sein. Im Wachzustand verfügen wir gewöhnlich über Bewusstsein, während wir im Schlaf bewusstlos sind. Obwohl Auge, Ohr, Nase, Mund, Haut und Hirn vorhanden sind, nehmen wir keine Sinnesempfindungen wahr. Denn dazu fehlt ein Bewusstsein. Ja, es gibt Traumsequenzen während der REM-Phasen. Beim luziden Träumen wachen wir sozusagen im Schlafzustand, weshalb wir auch vom Wachträumen sprechen. Handlungen und Geschehnisse können willentlich beeinflusst werden – ganz im Gegensatz zum Traum während der Schlafphase, in dem wir Spielball der Ereignisse sind und Handlungen geschehen als würden sie uns zustoßen. Nur dass es eben niemanden gibt, der die Folgen erleidet; im Reich der Träume können wir hunderte Male sterben und kommen doch jedes Mal mit dem Leben davon, weil die Person bzw. das denkende, urteilende, handelnde Ich vorübergehend abwesend ist.
Denn wer oder was stirbt schließlich am Ende des langen, viel zu kurzen Lebens? Und wer oder was hat Angst vor der Auslöschung, vor der Vernichtung? Es ist das kleine Ich-bin-ich. Geburt und Tod betreffen nur das in den Anschauungsformen Raum und Zeit existierende Ego. Wo dieses nicht existiert, gibt es auch keine Geburt, keinen Tod. Und Ego existiert stets in der Zeit. Zeit ist die Substanz, die das Ego konstituiert und von der das Ego zehrt. Die grauen Herren wissen, dass die Zeit es ist, die Anfang und Ende der Lebens-Geschichte auf einer Zielgeraden anberaumt.
Wenn du stirbst, stirbt nur dein Werden
Konstantin Wecker
Gönn ihm keinen Blick zurück
In der Zeit muss alles sterben –
aber nichts im Augenblick.
Etwas ganz Ähnliches geschieht, wenn wir (geistes-)abwesend lesen oder vorm Schlafengehen lesen, aber kein hinreichendes Sinnesbewusstsein mehr gegeben ist. Wenn wir durch den Wald gehen und die Blätter zwar duften, wir jedoch in ein Gespräch vertieft sind. Wenn wir jemandem zuhören, aber mehr mit den eigenen Gedanken als mit den Worten des Gegenübers beschäftigt sind. Hier befinden wir uns ebenfalls im Zustand des Träumens. Aufwachen bedeutet hier, die eigenen Handlungen in Körper, Rede und Geist zu lenken statt blind gemäß persönlicher Gewohnheiten oder kultureller Gepflogenheiten auf Geschehnisse und Umstände zu reagieren. Das betrifft auch und insbesondere das Reagieren auf die im Kopf umherschwirrenden Gedachtheiten. Schlafen und Wachen erscheinen somit nicht nur als Zustände, die sich zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten abwechseln. Vielmehr können sie als Gradmesser eines in Achtsamkeit (sati) und klarem Verständnis (sampajañña) mehr oder minder geübten Bewusstseins angesehen werden. Um etwas wirklich zu sehen, müssen Auge, Form und Sehbewusstsein zugleich gegeben sein. Nur dann findet Sehen statt. Dass ein Seher erschaffen wird, ist etwas der direkten Erfahrung Hinzugefügtes (engl. self-ing). Eine Frage, die ich mir in Bezug auf Träume immer wieder stelle: Warum erscheinen zwar Traumbilder, aber niemals Traumklänge, Traumgerüche, Traumempfindungen?
Selbst oder Nicht-Selbst
Es ist nützlich,
Dschalal ad-din Rumi
sich von Zeit zu Zeit
einen Besuch abzustatten.
Der Verstand wird in der westlich geprägten Kultur so hoch geschätzt. Der Intellekt und die Kraft der Vernunft haben einen ungeheuren Stellenwert. Doch wozu dient er, wenn er nicht dafür verwendet wird, eine „liebevolle Rede und ein tiefes Zuhören“ (Thich Nhat Hanh) zu ermöglichen? Jack Kornfield sagt: „Compassion is natural for the awakened heart – Für das erwachte Herz ist Mitgefühl natürlich.“ Vielen Menschen fällt es jedoch schwer, mit sich selbst Mitgefühl zu entwickeln, vor allem wenn sie davon überzeugt sind, ein Selbst zu sein oder zu haben, das nicht gut genug ist. Der dadurch entstandene Schmerz wird nicht wirklich gefühlt und nicht hinterfragt. Die eigentliche Erfahrung der Einsamkeit und Unzulänglichkeit im eigenen Leben wird nicht gemacht. Stattdessen wird der Durst nach mehr gestillt und wieder gestillt.
Vergeblich wird das echte LEBEN gesucht. Je und je wird wieder eine schale Ersatzbefriedigung gewählt. Statt leuchtenden Regenbogen setzt mensch auf virtuelle Realität, statt Liebe zu verschenken schaufelt mensch Zucker in sich hinein, statt auf diesem Planeten im eigenen sinnerfüllten Tun das Paradies zu finden betet mensch zu Gott im Himmel. Und statt im Hier und Jetzt wahrhaft zuhause zu sein entwirft mensch sich hoffnungsvoll oder nervös in die Zukunft oder spult im Gedächtnis vergangene Zeiten ab, in Reue oder Wehmut. Oft bis zu jenem Punkt, an dem der Glaube ans Echte verloren geht oder der Ersatz für das Echte gehalten wird.
Es gibt einen großartigen Effekt der spirituellen Praxis: das Löwengebrüll. Es ist dies der Moment, in dem klar ist, dass ich nicht ein dauerhaftes Selbst besitze, bin oder habe, mich daher von diesem Moment an nicht mehr so ernst nehmen muss und deshalb viel mehr Freude am Leben erfahre. Das Löwengebrüll stellt sich von selbst ein, sobald die notwendigen Bedingungen gegeben sind. So wie das Wachstum einer Pflanze bloß behindert wird, sobald jemand am Stengel der Pflanze zieht oder die Pflanze ausgräbt um nachzusehen ob sie bereits gewurzelt hat, so finden auch Veränderungen der Geisteshaltung auf subtile Weise statt und bewirken die Nicht-Identifikation mit der Person. Was ist nun eine Person? Eine Person kommt zustande, wenn Form, Gefühl, Wahrnehmung, karmischen Formationen und Bewusstsein gegeben sind. Sobald wir an einem oder mehreren dieser Faktoren hängen, folgt Unzufriedenheit, Kummer, Frustration, Stress.
You know what my secret is?
Jiddu Krishnamurti
I don’t mind what happens.
Skandhas
Wenn wir von einer Person sprechen, dann ist in buddhistischer Tradition die Rede von fünf Komponenten, Teilen, Aggregaten, Fadenknäueln, die üblicherweise für das Selbst gehalten werden. Das Festhalten an diesen im Sanskrit skandhas genannten Anhäufungen ist verantwortlich für die unzähligen Ausformungen von Leid (skr. dukkha) im Leben des Menschen. Ein kurzer Ausflug in die Etymologie, die Lehre von der Herkunft der Wörter: Knäuel stammt von lat. clunga und bezeichnet ein Gebilde, in dem Hunderte Fäden in- und durcheinander laufen, sodass undurchschaubar ist wie alles zusammenhängt. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass aus demselben Wortstamm auch der Begriff Klüngel abgeleitet ist sowie das englische to cling mit der Bedeutung festhalten, klammern. Skandhas lassen sich somit ganz einfach als Knäuel verstehen, deren Fäden auf undurchschaubare Weise zusammenhängen und an die wir uns klammern, weil wir glauben, dass unser Überleben davon abhängt, ein Jemand zu sein oder zumindest in den Augen anderer jemanden darzustellen. Shakespeare sprach in Wie es euch gefällt davon: „die ganze Welt ist Bühne und alle Fraun und Männer bloße Spieler“. Woran hängen wir denn nun im Speziellen?
1. Form (rūpa)
2. Gefühl (vedanā)
3. Wahrnehmung (samjñā)
4. Gewohnheiten (sankhāra)
5. Bewusstsein (vijñāna)
Diese fünf skandhas sind jene Plätze, an denen wir uns aufhalten und aufhängen: “das bin ich”, “so bin ich” etc. Sie bilden die Grundlagen der Identifikationsprozesse. Sie zu beobachten und deren Auftauchen und Verschwinden unvoreingenommen zu registrieren zerstört die Illusion eines dauerhaften Ichs.
Form (rūpa)
Yet it is just within this fathom-long body, with its perception & intellect, that I declare that there is the cosmos, the origination of the cosmos, the cessation of the cosmos, and the path of practice leading to the cessation of the cosmos.
Rohitassa Sutta
Wie lässt sich die hartnäckige Illusion, ich sei mein Körper, entlarven? Zunächst einmal verändert sich der Körper ununterbrochen und tut Dinge, die ich ihm nicht befohlen habe. Auch wenn der Körper zäh erscheint und viel aushält, so ist es doch Tatsache, dass der menschliche Körper mit der Zeit altert, immer wieder erkrankt, schließlich gebrechlich wird und zerfällt. Genau genommen beginnt der Verfallsprozess mit dem Moment der Geburt. Abgesehen davon, dass ein Körper, der den Anspruch erhebt, “Selbst” zu sein, auf meine Anordnungen hören sollte, dies aber nicht (immer) tut, lassen sich die Sinnesempfindungen untersuchen: Bin ich was ich erblicke? Bin ich tatsächlich die sich ständig verändernden visuellen Eindrücke? Aber wieder: Ich kann nicht bestimmen, was ich sehe. Und es erfordert ein gutes Maß an Achtsamkeit, um zu erkennen wie ich sehe. Bin ich der Geruch, den der Körper absondert oder den ich durch die Nase wahrnehme? Nein, “ich” bin auch noch “ich” wenn der Körper gewaschen wurde. Ich bin auch nicht der, der den Duft der Seife erschnuppert – die Nase bewerkstelligt das ganz alleine mit Hilfe der dafür geeigneten Rezeptoren. Ebenso verhält es sich mit den Klängen: Vielerlei Geräusche werden im Laufe des Tages produziert, die ich nicht willentlich hervorgerufen habe: Furzen, Rülpsen, Niesen, Husten usw. Nicht anders ist es mit den im Inneren des Körpers wirkenden Organsystemen und Drüsen. Das Herz schlägt und der Atem fließt ob ich will oder nicht. Ich sondere Schweiß und Speichel ab, Urin und Tränen, ob ich will oder nicht. Was den Geschmack von Speisen und Getränken betrifft, so ist jegliche Geschmacksempfindung äußerst kurzlebig und von äußeren Faktoren abhängig. Ab welchem Zeitpunkt wird Nahrung zu uns, mit anderen Worten, wann hört es auf Nahrung zu sein und trägt zur Regeneration und Versorgung von Zellsystemen bei? Auch das äußerliche Erscheinungsbild und der Körperbau verändern sich im Laufe des Lebens. Das Selbst wird trotz all dieser Veränderungen stets mit dem gleichen Namen belegt und die Identifikation mit dem Körper perpetuiert. Mit dem Tastsinn verhält es sich ebenso, bin ich doch nicht das durch eine Wespe oder ein anderes Insekt verursachte Jucken. Dieses kommt und vergeht schließlich wie jede andere körperliche Sinnesempfindung. Was das Denken betrifft – im Buddhismus der sechste Sinn neben Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – so lässt sich das Auftauchen und Vergehen von Gedachtem beobachten und als unpersönlicher Prozess registrieren, der ohne eigenes Zutun stattfindet.
Diese Überlegungen mögen als Anhaltspunkte dienen für eigene Reflektionen in Bezug auf den Körper.
Gefühl (vedanā)
The human turns to drugging
Khalil Gibran
As to nursing from the breast
Coming to the age of weaning
Only when he’s put to rest.
Gefühle sind entweder angenehm, neutral oder unangenehm. Manche Menschen sind bereits empfindsam genug, während fünf Minuten, in denen sie Schokoladenkuchen verzehren, alle Gefühlstöne wahrzunehmen. Auch die beste Schokolade schmeckt nicht nur angenehm. Geschmack und Konsistenz variieren während des Verzehrs: knackig, knusprig, süß, bitter, hart, weich usw. usf. Was zu Beginn Schokolade ist, hat nach 3 Sekunden Kauen kaum mehr Ähnlichkeit mit Schokolade. Wie lange bleibt dieser oder jene Geschmack erhalten? Wie ist der Nachgeschmack? Wann ist der Drang, den halb zerkauten Brei zu schlucken, nicht mehr zu unterdrücken? Wann kommt das Verlangen nach dem nächsten Bissen – wenn die Süße nachlässt und die Masse zwischen den Zahnlücken sich bemerkbar macht? Darüber wird oft hinweg gesehen.
Ein weiterer Aspekt, der bei Gefühlen eine Rolle spielt, ist die Voreingenommenheit. Um beim Essen zu bleiben: Können wir einmal Schokolade essen, ohne „Schokolade“ zu denken? Der Verzehr mit geschlossenen Augen birgt oft manche Überraschung – es schmeckt doch anders, wenn zuvor mit den Augen und der Nase Form, Farbe und Geruch wahrgenommen wurden. Wie fühlt sich die Nahrungsmasse am Gaumen und im Rachen an? Auf den Zähnen und auf der Zunge – wie denn nun? Es heißt, wenn du ein Stück wirklich achtsam isst, dann brauchst bzw. willst du gar kein zweites.
Unstillbarer Durst gründet stets auf Unachtsamkeit, d.h. auf der durch persönliche Vorlieben gefilterten, verzerrten, zurechtgebogenen Wahrnehmung der Wirklichkeit auf Kosten der direkten Erfahrung dessen, was ist.
Wahrnehmung (samjñā)
In der Tat, nichts charakterisiert einen Menschen so gut wie das Verhalten seiner Aufmerksamkeit.
José Ortega y Gasset
Wahr-Nehmung beinhaltet das Wieder-Erkennen bestimmter Muster und Erscheinungen. Intelligenz ist bis zu einem gewissen Grad das Erkennen von komplexen Zusammenhänge und Mustern, seien es nun Verhaltensmuster, Zahlenmuster, grammatische oder geometrische Muster usw. Manchmal lässt sich ein bestimmter Sinneseindruck weder mit Bekanntem vergleichen noch in eine Struktur oder ein Modell einordnen. Das Wahrgenommene lässt sich somit nicht be-greifen. Die momentane Unmöglichkeit, etwas zu begreifen, bedeutet mit anderen Worten: ich kann nicht identifizieren, worum es sich handelt, ich kann es nicht benennen. Neues ist namenlos und findet jenseits etablierter Ordnungen statt. Jede vollkommen neue Erfahrung, d.h. jeder Sinneseindruck, der mit keinem Referenzpunkt aus vergangenen Erfahrungen verglichen werden kann, wird entweder in die bestehende Nomenklatur eingegliedert oder aus der persönlichen Erfahrung ausgeblendet.
Wesentlich ist, dass die Objekte der Welt nicht nur entsprechend der Sinnesorgane verschieden aufgefasst, sondern auch mit unterschiedlichen, teils konträren Assoziationen verknüpft werden. Dementsprechend reagieren verschiedene Menschen auf ähnliche Reize so verschieden. Das mag trivial klingen. Doch wären wir uns allein dieser Tatsache im Umgang mit unserer Familie, in unserer Beziehung, am Arbeitsplatz etc. konsequent bewusst, dann bräuchte es keinen Ruf nach Toleranz. Wenn offensichtlich ist, dass wir unterschiedlich wahrnehmen und Sprache selten ausreicht, um die Erfahrung zu vermitteln, dann tragen wir in erster Linie Verantwortung für die Reaktion auf die eigene Wahrnehmung und die daraus entstehenden persönlichen Gewohnheiten.
Gewohnheiten (sankhāra)
He who has so little knowledge of human nature as to seek happiness by changing anything but his own disposition will waste his life in fruitless efforts.
Samuel Johnson
Dazu gehören gewohnte Sichtweisen, Ideen, Meinungen und der gesamte kulturelle Ballast, den wir auch dann noch tragen wenn wir meinen, „nackt“ zu sein, bloß weil wir unsere Kleidung abgelegt haben. Fundamentale Einstellungen zu weltlichen Erfahrungen bewirken unsere Reaktionsmuster:
Wenn etwas angenehme Empfindungen schafft, dann gefällt mir das.
Wenn etwas unangenehme Empfindungen hervorruft, dann missfällt mir das.
Wenn etwas weder angenehm noch unangenehm ist, dann langweilt mich das.
Das ist das gängige Reaktionsmuster auf das Spektrum menschlicher Gefühle. Den Großteil der Lebenszeit verbringen wir damit, die Dinge in unserem Leben so einzurichten – wir versuchen es zumindest – dass möglichst nur angenehme Empfindungen unseres Weges kommen. Egal ob die Wahl des Partners oder des Jobs, meistens geht es um die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Was sind Bedürfnisse? Das Verlangen nach angenehmen Empfindungen und das Vermeiden unangenehmer Empfindungen. Auf diese Weise sammeln sich Verhaltensmuster an, die den Lebenslauf bestimmen. Da bleibt meistens keine Zeit – und auch kein Verständnis für die absolute Notwendigkeit – um diese Verhaltensmuster zu erkennen, zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern.
Es gilt, den verwirrenden Zauber der liebgewonnenen Denk- und Handlungsmuster zu durchschauen. Sankhāra ist stets konstruiert, bedingt, gewollt, beabsichtigt, karmisch wirksam, vergänglich. Karmische Formationen sind mentale Phänomene wie Ansichten, Überzeugungen, Meinungen, Ideen, Konzepte, Vorstellungen… mit einfachen Worten: Es handelt sich um Motive bzw. Handlungsabsichten, die durch unbewusste Wiederholung die Identifikation mit dem Selbst verstärken.
| Anicca vata sankhara | uppada vaya dhammino |
Mahā Parinibbāna Sutta
| Uppajijitva nirujjhanti | tesam vupasamo sukho |
Alle sankharas sind vergänglich.
Sie haben die Natur des Entstehens und Vergehens.
Das Zur-Ruhe-bringen ebendieser bringt große Freude.
All die menschlichen Phantasien, Projektionen, Gedanken, Erinnerungen und Hoffnungen lassen sich unter dem Begriff sankhāra zusammenfassen. Um den Einfluss von sankhāras zu schwächen, wende dich voller Aufmerksamkeit den eigenen Gewohnheiten zu. Beobachte sie und lerne sie gut kennen. Bekämpfe nicht deine schlechten Gewohnheiten – sie werden dadurch nur stärker oder durch deine Bemühungen noch zahlreicher. Versuche wo immer möglich, dich denjenigen Tätigkeiten zu widmen, die du zu Gewohnheiten machen möchtest.
Immer-wieder-darüber-nach-Denken wie du dich gerne fühlen würdest, ohne zu akzeptieren wie du dich im Augenblick fühlst, bewirkt Schüren und Nähren jener Gedanken, die den momentanen Geisteszustand verfestigen. Klammern und Ablehnen bedeuten beide Treibstoff für die Illusion eines inhärenten Selbst (skr. upādāna).
Entspanne dich – körperlich und mental. Entspann dich hier und jetzt in den Moment hinein.
Vergiss den nächsten Moment – es gibt ihn nicht!
Bewahre das Gewahrsein im gegenwärtigen, wunderbaren Augenblick und verweile darin. Das ist eine viel praktischere Route zu Glück, Freude, Gelassenheit und Frieden als beständig nach Erklärungen, Lösungen, Rechtfertigungen, Schlussfolgerungen und Gründen zu forschen. Natürlich gibt es auch eine Zeit dafür, aber diese Bemühungen führen nicht weiter als bis zum nächsten Problem, zur nächsten Frage.
Bewusstsein (vijñāna)
It’s a war on consciousness.
Dennis McKenna
Bewusstsein (skr. citta, jñāna) bedeutet in diesem Zusammenhang, zu wissen, was ich tue während ich es tue. Wenn ich esse weiß ich, dass ich esse und wenn ich trinke, weiß ich, dass ich trinke. Wenn ich atme, weiß ich, dass ich geatmet werde 😉
Im Buddhismus wird vom Speicherbewusstsein (skr. ālaya-vijñāna) gesprochen, wenn es um die Anhäufung von sankhāras geht. Alle unbewussten Verhaltensweisen und mentalen Bilder stammen aus diesem „Behälter“. Speicherbewusstsein ist deshalb ein wesentlicher Faktor für Irrtümer und Täuschungen. Denn die in der Psyche hinterlassenen Eindrücke sammeln sich in einem sogenannten āśaya, einem Ruheort. Sie verhindern die reine Anschauung, indem sie Wirbelwinde (skr. vṛtti) jenes gefährlichen Halbwissens auslösen, das auf übernommenen Vorstellungen und falschen Schlussfolgerungen beruht und auf diese Art und Weise die klare Wahrnehmung verfälscht. Sinnesempfindungen werden auf der Grundlage von Präferenzen, Prämissen und Präsuppositionen interpretiert. Nach der buddhistischen Philosophie und der Lehre des Patañjali im Yoga-Sutra verunmöglichen so die Rest-Wirkungen unbewusster Eindrücke die direkte Erfahrung der Wirklichkeit.
Werden die aktivierten Muster jedoch als das gesehen was sie sind, nämlich Schöpfungen des Geistes, dann trennt das Bewusstsein nicht mehr Subjekt von Objekt, gebiert keine Person und entwirft keine Welt. Diese Form des geklärten Bewusstseins wird Geistbewusstsein (skr. manovijñāna) genannt: Klares Gewahrsein von Empfindungen, Gefühlen und Gedanken ohne dualistischen Überbau. Unverhüllt.
Good and evil are an affair of the world.
Ajahn Chah
When they‘re an affair of the world,
they‘re just a preoccupation.
If, when we‘re struck by preoccupations,
we‘re shaken by preoccupations,
the mind becomes a world.
In der Psychoanalyse findet sich meines Wissens der dieser Auffassung verwandte Zugang zu den sogenannten Doppelsignalen. Das sind jene Eigenschaften, die wir an uns selbst nicht ausstehen können und die aus dem einfachen Grund, dass wir nicht zu ihnen stehen und uns weigern, uns deren Wirklichkeit zu stellen, unser Leben so stark beeinflussen und in den vielen Fällen uns naturgemäß den Menschen nahebringen, die das Pendant zu unseren unterdrückten Regungen und Reaktionsmustern darstellen.
Life reflects us, perfectly and constantly.
Nimbin Museum, Australia
What you hate in others, you hate in yourself.
What you love in others, you love in yourself.
Mit den im Speicherbewusstsein vorrätigen Reaktionsmustern und den nach C.G. Jung benannten Schatten verhält es sich so wie mit Tieren im Wald in dunkler Nacht, die nur dann besondere Macht haben, wenn wir wegschauen und uns vor ihnen fürchten. (Es kommt vor, dass Tiere im dunklen Wald nur in unserer Vorstellung existieren.)
Jetzt wurde einige Male der Begriff „Wirklichkeit“ verwendet. Es erscheint daher angebracht, auf zwei Ebenen der Wirklichkeit hinzuweisen, zwischen denen in spirituellen Kreisen oft unterschieden wird und die ihre je eigene Gültigkeit haben: Die konventionelle Realität und die absolute Realität. Sie schließen einander nicht aus, sondern bestehen parallel bzw. gleichzeitig. Das Auge des Betrachtenden entscheidet über die für-wahr-genommene Realität. Konventionell: „Das ist meine rechte Hand. So sieht sie aus. Sie besteht aus Knochen, Gelenken und Blut, sie ist bedeckt von Haut und Nägeln und Haaren.“ Absolut: „Das ist Sternenstaub. Leben, wie es sich in Form/Leerheit manifestiert.“ Diese beiden Sichtweisen sind komplementär.
Wir haben immer die Wahl, ob wir den großen oder kleinen Kontext sehen. Wir können in jedem Moment reinen Tisch machen.
Ein Kommentar zu “Tabula Rasa”