Tabula Rasa

Schon die alten Griechen sprachen und schrieben im Kontext von menschlicher Wahrnehmung, Gedächtnis und Seele von wachsüberzogenen Schreibtafeln. Auf diesen prägen Sinneserfahrungen sich wie Abdrücke ein. Zu Beginn des Lebens seien diese Tafeln leer – daher der lateinische Ausdruck tabula rasa. So sahen es u.a. Aischylos, Platon und Aristoteles. Francis Bacon und John Locke haben im 16. und 17. Jahrhundert diese Vorstellung übernommen und in ihre materialistischen Programme integriert. Zuletzt hat Steven Pinker mit seinem Werk Das Unbeschriebene Blatt die Komplexität der menschlichen Natur jenseits binärer Nature/Nurture-Muster wissenschaftlich untermauert.

In diesem Artikel eröffne ich Perspektiven, die sich am Konzept einer tabula rasa orientieren; Perspektiven, wie sie weder in der Liebe zur Weisheit des antiken Griechenland noch in der von Naturbeherrschung und Bürgerkrieg geprägten Neuzeit und genauso wenig durch die von Pinker zurückgewiesenen extremen Einstellungen (biologischer Determinismus vs. Sozialkonstruktivismus) eingenommen wurden.

Im Zuge meiner Darstellung möchte ich mich auf zwei parallel verlaufende Argumentationsgrundlagen stützen: Einerseits lassen sich die Übergange zwischen den unterschiedlichen Bewusstseinszuständen von Wachen und Träumen als einander ergänzende ZeitPunkte des Neuanfangs auffassen. Die Zeit, die wir schlafend verbringen, werden vom Körper durchgehend Sinneseindrücke empfunden, doch von keinem entsprechenden Sinnes-Bewusstsein wahrgenommen. Die persona (lat. Maske, Rolle, Person) ist abwesend. Sie ist nicht präsent (lat. praesens: gegenwärtig; wirksam, auch: entschlossen, furchtlos). Menschen wälzen sich also im Schlaf hin und her, sobald bestimmte Empfindungen den Körper heimsuchen – ganz so wie im alltäglichen Wachbewusstseinszustand Reaktionen gemäß gewohnter Automatismen stattfinden. (Ab und zu werden auch Klänge und Töne in den Ablauf eines Traums integriert. Die Luftzufuhr, die Temperatur im Raum, die Lichtverhältnisse, die Härte der Liegestatt, all das hat Auswirkungen auf die Qualität des Schlafens und des Träumens ebenso wie das, welches die letzte Tätigkeit vor dem Schließen der Augen ist.) Erst neulich erzählte mir jemand, sie habe sich im Laufe der Nacht um 180 Grad gedreht und sei in der Früh mit dem Kopf am Fußende munter geworden. Der Körper wurde bewegt, doch da war kein Beweger. Es wurde geschnarcht, doch es gab keinen Schnarcher. All das ist hinzugedichtet, und so wird aus dem Nichts mittels Worten eine Scheinwirklichkeit erschaffen. Das Leben entlang von Glaubenssätzen, die sich aufgrund dieser Scheinwirklichkeit ergeben, vergleiche ich mit Schlaf. Es ist das gedankenverlorene Fallen ins Damals und ins Nochnicht, das sich ähnlich anfühlt wie wenn du zu lange der prallen Sonne ausgesetzt warst. Das Erkennen der Scheinwirklichkeit und das Erwachen aus den eingefahrenen gewohnten Reaktionsmustern assoziiere ich mit Wachen. Mit der Relation von tatsächlichem und sinnbildlichem Wachen und Schlafen gelangen wir zur zweiten Grundlage. In der Einsicht, dass es sich bei jedem neuen Tag um einen Neubeginn handelt und jedes In-den-Schlaf-fallen ein kleiner Ego-Tod ist, verbirgt sich noch eine weitere Einsicht: dass nämlich jeder Augenblick ein Neubeginn ist, in dem jede Zelle des Körpers auf Grundlage der alten Konfiguration wieder geboren wird. So verhält es sich auch mit Gefühl, Wahrnehmung, Reaktion, Bewusstsein. Die persona (lat. Maske) wird in jedem Moment aufgrund der momentan vorherrschenden Bedingungen neu geboren. In buddhistischer Terminologie werden die soeben genannten Komponenten einer Person skandhas genannt. Skandha bedeutet Haufen bzw. Anhäufung. Woraus bestehen die Haufen? Aus Seifenblasen, Schaum, Illusionen. So wie Atome (altgr. ἄτομος, á-tomos, unteilbar) grundsätzlich leer sind von jeglicher inhärenter Natur, so sind auch die Bausteine der Person leer. Was sie wirklich erscheinen lässt, ist lediglich die bewusste/unbewusste Identifikation mit der zusammen gesetzten Schaum und der Annahme, dass mit der Verleihung eines Namens das benannte Ding Wirklichkeit wird – im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort… und das Wort ward Fleisch. (Joh 1,1; Joh 1,14)

Wachen und Träumen

Ein Mensch träumt davon, ein Schmetterling zu sein. Er wacht auf und fragt sich, ob er nicht in Wirklichkeit ein Schmetterling ist, der davon träumt, ein Mensch zu sein. Im Wachzustand verfügen wir gewöhnlich über Bewusstsein, während wir im Schlaf bewusstlos sind. Obwohl Auge, Ohr, Nase, Mund, Haut und Hirn vorhanden sind, nehmen wir keine Sinnesempfindungen wahr. Denn dazu fehlt ein Bewusstsein. Ja, es gibt Traumsequenzen während der REM-Phasen. Beim luziden Träumen wachen wir sozusagen im Schlafzustand, weshalb wir auch vom Wachträumen sprechen. Handlungen und Geschehnisse können willentlich beeinflusst werden – ganz im Gegensatz zum Traum während der Schlafphase, in dem wir Spielball der Ereignisse sind und Handlungen geschehen als würden sie uns zustoßen. Nur dass es eben niemanden gibt, der die Folgen erleidet; im Reich der Träume können wir hunderte Male sterben und kommen doch jedes Mal mit dem Leben davon, weil die Person bzw. das denkende, urteilende, handelnde Ich vorübergehend abwesend ist.

Denn wer oder was stirbt schließlich am Ende des langen, viel zu kurzen Lebens? Und wer oder was hat Angst vor der Auslöschung, vor der Vernichtung? Es ist das kleine Ich-bin-ich. Geburt und Tod betreffen nur das in den Anschauungsformen Raum und Zeit existierende Ego. Wo dieses nicht existiert, gibt es auch keine Geburt, keinen Tod. Und Ego existiert stets in der Zeit. Zeit ist die Substanz, die das Ego konstituiert und von der das Ego zehrt. Die grauen Herren wissen, dass die Zeit es ist, die Anfang und Ende der Lebens-Geschichte auf einer Zielgeraden anberaumt.

Wenn du stirbst, stirbt nur dein Werden
Gönn ihm keinen Blick zurück
In der Zeit muss alles sterben –
aber nichts im Augenblick.

Konstantin Wecker

Etwas ganz Ähnliches geschieht, wenn wir (geistes-)abwesend lesen oder vorm Schlafengehen lesen, aber kein hinreichendes Sinnesbewusstsein mehr gegeben ist. Wenn wir durch den Wald gehen und die Blätter zwar duften, wir jedoch in ein Gespräch vertieft sind. Wenn wir jemandem zuhören, aber mehr mit den eigenen Gedanken als mit den Worten des Gegenübers beschäftigt sind. Hier befinden wir uns ebenfalls im Zustand des Träumens. Aufwachen bedeutet hier, die eigenen Handlungen in Körper, Rede und Geist zu lenken statt blind gemäß persönlicher Gewohnheiten oder kultureller Gepflogenheiten auf Geschehnisse und Umstände zu reagieren. Das betrifft auch und insbesondere das Reagieren auf die im Kopf umherschwirrenden Gedachtheiten. Schlafen und Wachen erscheinen somit nicht nur als Zustände, die sich zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten abwechseln. Vielmehr können sie als Gradmesser eines in Achtsamkeit (sati) und klarem Verständnis (sampajañña) mehr oder minder geübten Bewusstseins angesehen werden. Um etwas wirklich zu sehen, müssen Auge, Form und Sehbewusstsein zugleich gegeben sein. Nur dann findet Sehen statt. Dass ein Seher erschaffen wird, ist etwas der direkten Erfahrung Hinzugefügtes (engl. self-ing). Eine Frage, die ich mir in Bezug auf Träume immer wieder stelle: Warum erscheinen zwar Traumbilder, aber niemals Traumklänge, Traumgerüche, Traumempfindungen?


Selbst oder Nicht-Selbst

Es ist nützlich,
sich von Zeit zu Zeit
einen Besuch abzustatten.

Dschalal ad-din Rumi

Der Verstand wird in der westlich geprägten Kultur so hoch geschätzt. Der Intellekt und die Kraft der Vernunft haben einen ungeheuren Stellenwert. Doch wozu dient er, wenn er nicht dafür verwendet wird, eine „liebevolle Rede und ein tiefes Zuhören“ (Thich Nhat Hanh) zu ermöglichen? Jack Kornfield sagt: „Compassion is natural for the awakened heart – Für das erwachte Herz ist Mitgefühl natürlich.“ Vielen Menschen fällt es jedoch schwer, mit sich selbst Mitgefühl zu entwickeln, vor allem wenn sie davon überzeugt sind, ein Selbst zu sein oder zu haben, das nicht gut genug ist. Der dadurch entstandene Schmerz wird nicht wirklich gefühlt und nicht hinterfragt. Die eigentliche Erfahrung der Einsamkeit und Unzulänglichkeit im eigenen Leben wird nicht gemacht. Stattdessen wird der Durst nach mehr gestillt und wieder gestillt.

Vergeblich wird das echte LEBEN gesucht. Je und je wird wieder eine schale Ersatzbefriedigung gewählt. Statt leuchtenden Regenbogen setzt mensch auf virtuelle Realität, statt Liebe zu verschenken schaufelt mensch Zucker in sich hinein, statt auf diesem Planeten im eigenen sinnerfüllten Tun das Paradies zu finden betet mensch zu Gott im Himmel. Und statt im Hier und Jetzt wahrhaft zuhause zu sein entwirft mensch sich hoffnungsvoll oder nervös in die Zukunft oder spult im Gedächtnis vergangene Zeiten ab, in Reue oder Wehmut. Oft bis zu jenem Punkt, an dem der Glaube ans Echte verloren geht oder der Ersatz für das Echte gehalten wird.

Es gibt einen großartigen Effekt der spirituellen Praxis: das Löwengebrüll. Es ist dies der Moment, in dem klar ist, dass ich nicht ein dauerhaftes Selbst besitze, bin oder habe, mich daher von diesem Moment an nicht mehr so ernst nehmen muss und deshalb viel mehr Freude am Leben erfahre. Das Löwengebrüll stellt sich von selbst ein, sobald die notwendigen Bedingungen gegeben sind. So wie das Wachstum einer Pflanze bloß behindert wird, sobald jemand am Stengel der Pflanze zieht oder die Pflanze ausgräbt um nachzusehen ob sie bereits gewurzelt hat, so finden auch Veränderungen der Geisteshaltung auf subtile Weise statt und bewirken die Nicht-Identifikation mit der Person. Was ist nun eine Person? Eine Person kommt zustande, wenn Form, Gefühl, Wahrnehmung, karmischen Formationen und Bewusstsein gegeben sind. Sobald wir an einem oder mehreren dieser Faktoren hängen, folgt Unzufriedenheit, Kummer, Frustration, Stress.

You know what my secret is?
I don’t mind what happens.

Jiddu Krishnamurti

Skandhas

Wenn wir von einer Person sprechen, dann ist in buddhistischer Tradition die Rede von fünf Komponenten, Teilen, Aggregaten, Fadenknäueln, die üblicherweise für das Selbst gehalten werden. Das Festhalten an diesen im Sanskrit skandhas genannten Anhäufungen ist verantwortlich für die unzähligen Ausformungen von Leid (skr. dukkha) im Leben des Menschen. Ein kurzer Ausflug in die Etymologie, die Lehre von der Herkunft der Wörter: Knäuel stammt von lat. clunga und bezeichnet ein Gebilde, in dem Hunderte Fäden in- und durcheinander laufen, sodass undurchschaubar ist wie alles zusammenhängt. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass aus demselben Wortstamm auch der Begriff Klüngel abgeleitet ist sowie das englische to cling mit der Bedeutung festhalten, klammern. Skandhas lassen sich somit ganz einfach als Knäuel verstehen, deren Fäden auf undurchschaubare Weise zusammenhängen und an die wir uns klammern, weil wir glauben, dass unser Überleben davon abhängt, ein Jemand zu sein oder zumindest in den Augen anderer jemanden darzustellen. Shakespeare sprach in Wie es euch gefällt davon: „die ganze Welt ist Bühne und alle Fraun und Männer bloße Spieler“. Woran hängen wir denn nun im Speziellen?

1. Form (rūpa)

2. Gefühl (vedanā)

3. Wahrnehmung (samjñā)

4. Gewohnheiten (sankhāra)

5. Bewusstsein (vijñāna)

Diese fünf skandhas sind jene Plätze, an denen wir uns aufhalten und aufhängen: “das bin ich”, “so bin ich” etc. Sie bilden die Grundlagen der Identifikationsprozesse. Sie zu beobachten und deren Auftauchen und Verschwinden unvoreingenommen zu registrieren zerstört die Illusion eines dauerhaften Ichs.

Form (rūpa)

Yet it is just within this fathom-long body, with its perception & intellect, that I declare that there is the cosmos, the origination of the cosmos, the cessation of the cosmos, and the path of practice leading to the cessation of the cosmos.

Rohitassa Sutta

Wie lässt sich die hartnäckige Illusion, ich sei mein Körper, entlarven? Zunächst einmal verändert sich der Körper ununterbrochen und tut Dinge, die ich ihm nicht befohlen habe. Auch wenn der Körper zäh erscheint und viel aushält, so ist es doch Tatsache, dass der menschliche Körper mit der Zeit altert, immer wieder erkrankt, schließlich gebrechlich wird und zerfällt. Genau genommen beginnt der Verfallsprozess mit dem Moment der Geburt. Abgesehen davon, dass ein Körper, der den Anspruch erhebt, “Selbst” zu sein, auf meine Anordnungen hören sollte, dies aber nicht (immer) tut, lassen sich die Sinnesempfindungen untersuchen: Bin ich was ich erblicke? Bin ich tatsächlich die sich ständig verändernden visuellen Eindrücke? Aber wieder: Ich kann nicht bestimmen, was ich sehe. Und es erfordert ein gutes Maß an Achtsamkeit, um zu erkennen wie ich sehe. Bin ich der Geruch, den der Körper absondert oder den ich durch die Nase wahrnehme? Nein, “ich” bin auch noch “ich” wenn der Körper gewaschen wurde. Ich bin auch nicht der, der den Duft der Seife erschnuppert – die Nase bewerkstelligt das ganz alleine mit Hilfe der dafür geeigneten Rezeptoren. Ebenso verhält es sich mit den Klängen: Vielerlei Geräusche werden im Laufe des Tages produziert, die ich nicht willentlich hervorgerufen habe: Furzen, Rülpsen, Niesen, Husten usw. Nicht anders ist es mit den im Inneren des Körpers wirkenden Organsystemen und Drüsen. Das Herz schlägt und der Atem fließt ob ich will oder nicht. Ich sondere Schweiß und Speichel ab, Urin und Tränen, ob ich will oder nicht. Was den Geschmack von Speisen und Getränken betrifft, so ist jegliche Geschmacksempfindung äußerst kurzlebig und von äußeren Faktoren abhängig. Ab welchem Zeitpunkt wird Nahrung zu uns, mit anderen Worten, wann hört es auf Nahrung zu sein und trägt zur Regeneration und Versorgung von Zellsystemen bei? Auch das äußerliche Erscheinungsbild und der Körperbau verändern sich im Laufe des Lebens. Das Selbst wird trotz all dieser Veränderungen stets mit dem gleichen Namen belegt und die Identifikation mit dem Körper perpetuiert. Mit dem Tastsinn verhält es sich ebenso, bin ich doch nicht das durch eine Wespe oder ein anderes Insekt verursachte Jucken. Dieses kommt und vergeht schließlich wie jede andere körperliche Sinnesempfindung. Was das Denken betrifft – im Buddhismus der sechste Sinn neben Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – so lässt sich das Auftauchen und Vergehen von Gedachtem beobachten und als unpersönlicher Prozess registrieren, der ohne eigenes Zutun stattfindet.

Diese Überlegungen mögen als Anhaltspunkte dienen für eigene Reflektionen in Bezug auf den Körper.

Gefühl (vedanā)

The human turns to drugging
As to nursing from the breast
Coming to the age of weaning
Only when he’s put to rest.

Khalil Gibran

Gefühle sind entweder angenehm, neutral oder unangenehm. Manche Menschen sind bereits empfindsam genug, während fünf Minuten, in denen sie Schokoladenkuchen verzehren, alle Gefühlstöne wahrzunehmen. Auch die beste Schokolade schmeckt nicht nur angenehm. Geschmack und Konsistenz variieren während des Verzehrs: knackig, knusprig, süß, bitter, hart, weich usw. usf. Was zu Beginn Schokolade ist, hat nach 3 Sekunden Kauen kaum mehr Ähnlichkeit mit Schokolade. Wie lange bleibt dieser oder jene Geschmack erhalten? Wie ist der Nachgeschmack? Wann ist der Drang, den halb zerkauten Brei zu schlucken, nicht mehr zu unterdrücken? Wann kommt das Verlangen nach dem nächsten Bissen – wenn die Süße nachlässt und die Masse zwischen den Zahnlücken sich bemerkbar macht? Darüber wird oft hinweg gesehen.

Ein weiterer Aspekt, der bei Gefühlen eine Rolle spielt, ist die Voreingenommenheit. Um beim Essen zu bleiben: Können wir einmal Schokolade essen, ohne „Schokolade“ zu denken? Der Verzehr mit geschlossenen Augen birgt oft manche Überraschung – es schmeckt doch anders, wenn zuvor mit den Augen und der Nase Form, Farbe und Geruch wahrgenommen wurden. Wie fühlt sich die Nahrungsmasse am Gaumen und im Rachen an? Auf den Zähnen und auf der Zunge – wie denn nun? Es heißt, wenn du ein Stück wirklich achtsam isst, dann brauchst bzw. willst du gar kein zweites.

Unstillbarer Durst gründet stets auf Unachtsamkeit, d.h. auf der durch persönliche Vorlieben gefilterten, verzerrten, zurechtgebogenen Wahrnehmung der Wirklichkeit auf Kosten der direkten Erfahrung dessen, was ist.

Wahrnehmung (samjñā)

In der Tat, nichts charakterisiert einen Menschen so gut wie das Verhalten seiner Aufmerksamkeit.

José Ortega y Gasset

Wahr-Nehmung beinhaltet das Wieder-Erkennen bestimmter Muster und Erscheinungen. Intelligenz ist bis zu einem gewissen Grad das Erkennen von komplexen Zusammenhänge und Mustern, seien es nun Verhaltensmuster, Zahlenmuster, grammatische oder geometrische Muster usw. Manchmal lässt sich ein bestimmter Sinneseindruck weder mit Bekanntem vergleichen noch in eine Struktur oder ein Modell einordnen. Das Wahrgenommene lässt sich somit nicht be-greifen. Die momentane Unmöglichkeit, etwas zu begreifen, bedeutet mit anderen Worten: ich kann nicht identifizieren, worum es sich handelt, ich kann es nicht benennen. Neues ist namenlos und findet jenseits etablierter Ordnungen statt. Jede vollkommen neue Erfahrung, d.h. jeder Sinneseindruck, der mit keinem Referenzpunkt aus vergangenen Erfahrungen verglichen werden kann, wird entweder in die bestehende Nomenklatur eingegliedert oder aus der persönlichen Erfahrung ausgeblendet.

Wesentlich ist, dass die Objekte der Welt nicht nur entsprechend der Sinnesorgane verschieden aufgefasst, sondern auch mit unterschiedlichen, teils konträren Assoziationen verknüpft werden. Dementsprechend reagieren verschiedene Menschen auf ähnliche Reize so verschieden. Das mag trivial klingen. Doch wären wir uns allein dieser Tatsache im Umgang mit unserer Familie, in unserer Beziehung, am Arbeitsplatz etc. konsequent bewusst, dann bräuchte es keinen Ruf nach Toleranz. Wenn offensichtlich ist, dass wir unterschiedlich wahrnehmen und Sprache selten ausreicht, um die Erfahrung zu vermitteln, dann tragen wir in erster Linie Verantwortung für die Reaktion auf die eigene Wahrnehmung und die daraus entstehenden persönlichen Gewohnheiten.

Gewohnheiten (sankhāra)

He who has so little knowledge of human nature as to seek happiness by changing anything but his own disposition will waste his life in fruitless efforts.

Samuel Johnson

Dazu gehören gewohnte Sichtweisen, Ideen, Meinungen und der gesamte kulturelle Ballast, den wir auch dann noch tragen wenn wir meinen, „nackt“ zu sein, bloß weil wir unsere Kleidung abgelegt haben. Fundamentale Einstellungen zu weltlichen Erfahrungen bewirken unsere Reaktionsmuster:

Wenn etwas angenehme Empfindungen schafft, dann gefällt mir das.

Wenn etwas unangenehme Empfindungen hervorruft, dann missfällt mir das.

Wenn etwas weder angenehm noch unangenehm ist, dann langweilt mich das.

Das ist das gängige Reaktionsmuster auf das Spektrum menschlicher Gefühle. Den Großteil der Lebenszeit verbringen wir damit, die Dinge in unserem Leben so einzurichten – wir versuchen es zumindest – dass möglichst nur angenehme Empfindungen unseres Weges kommen. Egal ob die Wahl des Partners oder des Jobs, meistens geht es um die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Was sind Bedürfnisse? Das Verlangen nach angenehmen Empfindungen und das Vermeiden unangenehmer Empfindungen. Auf diese Weise sammeln sich Verhaltensmuster an, die den Lebenslauf bestimmen. Da bleibt meistens keine Zeit – und auch kein Verständnis für die absolute Notwendigkeit – um diese Verhaltensmuster zu erkennen, zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern.

Es gilt, den verwirrenden Zauber der liebgewonnenen Denk- und Handlungsmuster zu durchschauen. Sankhāra ist stets konstruiert, bedingt, gewollt, beabsichtigt, karmisch wirksam, vergänglich. Karmische Formationen sind mentale Phänomene wie Ansichten, Überzeugungen, Meinungen, Ideen, Konzepte, Vorstellungen… mit einfachen Worten: Es handelt sich um Motive bzw. Handlungsabsichten, die durch unbewusste Wiederholung die Identifikation mit dem Selbst verstärken.

| Anicca vata sankhara | uppada vaya dhammino |
| Uppajijitva nirujjhanti | tesam vupasamo sukho |

Mahā Parinibbāna Sutta

Alle sankharas sind vergänglich.
Sie haben die Natur des Entstehens und Vergehens.
Das Zur-Ruhe-bringen ebendieser bringt große Freude.

All die menschlichen Phantasien, Projektionen, Gedanken, Erinnerungen und Hoffnungen lassen sich unter dem Begriff sankhāra zusammenfassen. Um den Einfluss von sankhāras zu schwächen, wende dich voller Aufmerksamkeit den eigenen Gewohnheiten zu. Beobachte sie und lerne sie gut kennen. Bekämpfe nicht deine schlechten Gewohnheiten – sie werden dadurch nur stärker oder durch deine Bemühungen noch zahlreicher. Versuche wo immer möglich, dich denjenigen Tätigkeiten zu widmen, die du zu Gewohnheiten machen möchtest.

Immer-wieder-darüber-nach-Denken wie du dich gerne fühlen würdest, ohne zu akzeptieren wie du dich im Augenblick fühlst, bewirkt Schüren und Nähren jener Gedanken, die den momentanen Geisteszustand verfestigen. Klammern und Ablehnen bedeuten beide Treibstoff für die Illusion eines inhärenten Selbst (skr. upādāna).

Entspanne dich – körperlich und mental. Entspann dich hier und jetzt in den Moment hinein.

Vergiss den nächsten Moment – es gibt ihn nicht!

Bewahre das Gewahrsein im gegenwärtigen, wunderbaren Augenblick und verweile darin. Das ist eine viel praktischere Route zu Glück, Freude, Gelassenheit und Frieden als beständig nach Erklärungen, Lösungen, Rechtfertigungen, Schlussfolgerungen und Gründen zu forschen. Natürlich gibt es auch eine Zeit dafür, aber diese Bemühungen führen nicht weiter als bis zum nächsten Problem, zur nächsten Frage.

Bewusstsein (vijñāna)

It’s a war on consciousness.

Dennis McKenna

Bewusstsein (skr. citta, jñāna) bedeutet in diesem Zusammenhang, zu wissen, was ich tue während ich es tue. Wenn ich esse weiß ich, dass ich esse und wenn ich trinke, weiß ich, dass ich trinke. Wenn ich atme, weiß ich, dass ich geatmet werde 😉

Im Buddhismus wird vom Speicherbewusstsein (skr. ālaya-vijñāna) gesprochen, wenn es um die Anhäufung von sankhāras geht. Alle unbewussten Verhaltensweisen und mentalen Bilder stammen aus diesem „Behälter“. Speicherbewusstsein ist deshalb ein wesentlicher Faktor für Irrtümer und Täuschungen. Denn die in der Psyche hinterlassenen Eindrücke sammeln sich in einem sogenannten āśaya, einem Ruheort. Sie verhindern die reine Anschauung, indem sie Wirbelwinde (skr. vṛtti) jenes gefährlichen Halbwissens auslösen, das auf übernommenen Vorstellungen und falschen Schlussfolgerungen beruht und auf diese Art und Weise die klare Wahrnehmung verfälscht. Sinnesempfindungen werden auf der Grundlage von Präferenzen, Prämissen und Präsuppositionen interpretiert. Nach der buddhistischen Philosophie und der Lehre des Patañjali im Yoga-Sutra verunmöglichen so die Rest-Wirkungen unbewusster Eindrücke die direkte Erfahrung der Wirklichkeit.

Werden die aktivierten Muster jedoch als das gesehen was sie sind, nämlich Schöpfungen des Geistes, dann trennt das Bewusstsein nicht mehr Subjekt von Objekt, gebiert keine Person und entwirft keine Welt. Diese Form des geklärten Bewusstseins wird Geistbewusstsein (skr. manovijñāna) genannt: Klares Gewahrsein von Empfindungen, Gefühlen und Gedanken ohne dualistischen Überbau. Unverhüllt.

Good and evil are an affair of the world.

When they‘re an affair of the world,
they‘re just a preoccupation.

If, when we‘re struck by preoccupations,
we‘re shaken by preoccupations,
the mind becomes a world.

Ajahn Chah

In der Psychoanalyse findet sich meines Wissens der dieser Auffassung verwandte Zugang zu den sogenannten Doppelsignalen. Das sind jene Eigenschaften, die wir an uns selbst nicht ausstehen können und die aus dem einfachen Grund, dass wir nicht zu ihnen stehen und uns weigern, uns deren Wirklichkeit zu stellen, unser Leben so stark beeinflussen und in den vielen Fällen uns naturgemäß den Menschen nahebringen, die das Pendant zu unseren unterdrückten Regungen und Reaktionsmustern darstellen.

Life reflects us, perfectly and constantly.
What you hate in others, you hate in yourself.
What you love in others, you love in yourself.

Nimbin Museum, Australia

Mit den im Speicherbewusstsein vorrätigen Reaktionsmustern und den nach C.G. Jung benannten Schatten verhält es sich so wie mit Tieren im Wald in dunkler Nacht, die nur dann besondere Macht haben, wenn wir wegschauen und uns vor ihnen fürchten. (Es kommt vor, dass Tiere im dunklen Wald nur in unserer Vorstellung existieren.)


Jetzt wurde einige Male der Begriff „Wirklichkeit“ verwendet. Es erscheint daher angebracht, auf zwei Ebenen der Wirklichkeit hinzuweisen, zwischen denen in spirituellen Kreisen oft unterschieden wird und die ihre je eigene Gültigkeit haben: Die konventionelle Realität und die absolute Realität. Sie schließen einander nicht aus, sondern bestehen parallel bzw. gleichzeitig. Das Auge des Betrachtenden entscheidet über die für-wahr-genommene Realität. Konventionell: „Das ist meine rechte Hand. So sieht sie aus. Sie besteht aus Knochen, Gelenken und Blut, sie ist bedeckt von Haut und Nägeln und Haaren.“ Absolut: „Das ist Sternenstaub. Leben, wie es sich in Form/Leerheit manifestiert.“ Diese beiden Sichtweisen sind komplementär.

Wir haben immer die Wahl, ob wir den großen oder kleinen Kontext sehen. Wir können in jedem Moment reinen Tisch machen.

Den Garten kultivieren

So wie Pflanzen gewisse Bedingungen brauchen um zu sprießen und zu gedeihen, braucht auch der Mensch bestimmte Bedingungen, um das in ihm schlummernde Potenzial zu aktivieren. Pflanzen brauchen Sonnenlicht, Erde und Wasser. Manche brauchen mehr Sonnenlicht, manche weniger. Manche lieben es im direkten Sonnenbad – und zeigen diese Liebe auch bei Tag und bei Nacht. Andere verkümmern sobald sie direkter Bestrahlung ausgesetzt sind. Auch wieviel Wasser eine bestimmte Pflanze benötigt ist unterschiedlich. Wie durchtränkt soll oder darf die Erde sein? Wie soll die Erde beschaffen sein? Wir Menschen leben auf der Erde. Auch wenn sie an manchen Stellen zubetoniert wird, bahnt sich die Natur doch stets einen Weg ans Licht. Was von Menschenhand installiert und in Stand gehalten wird, bricht die Natur wieder auf sobald die Bemühungen um die Einebnung, Begradigung, Oberflächenregulierung, Nivellierung usw. usf. nur etwas nachlassen. Wir Menschen schaffen uns tagtäglich die Bedingungen, die uns gedeihen oder verkümmern lassen. Natürlich sind Menschen viel komplexer als Pflanzen, natürlich natürlich. Und klar, wer würde schon so weit gehen, Menschen mit Pflanzen zu vergleichen? Das ginge doch wirklich etwas zu weit. Oder?

Zunächst sollte dieser Beitrag vom Thema LOSLASSEN handeln. Doch dann dachte ich mir, was soll’s, schreib einfach mal drauf los. Und lass los von dem geplanten Vorhaben, einen Text zu einem vorbestimmten Thema verfassen zu wollen. Geht es nicht beim Umgang mit dem eignen Leben einfach um das, was gerade ansteht? Um das was gerade in diesem Moment passiert? Und ist es nicht im Umgang mit Sprache genau so? Alles was als Schablone davor geschoben wird, wirkt auch wie eine Schablone. Wir können niemandem wirklich etwas vormachen. Auch nicht uns selbst. Wenn ich mit jemandem spreche, ist es meine Stimme, die wirkt. Der Inhalt mag eine Rolle spielen, doch wie die Stimme die Nachricht moduliert, eben diese Sprach-Melodie bewirkt, was wie ankommt und beim Gegenüber auf taube oder offene Ohren stößt. Und hier schließt sich der Kreis zum Garten. Es ist vielleicht ein Gedankensprung, doch bitte, liebe Leserin, lieber Leser, vollführe ihn mit mir. Ich spreche vom Garten des Geistes, von der Kultivierung des Bewusstsein. Wie wir mit uns selbst sprechen, so sprechen wir im Allgemeinen mit anderen. Sind wir fähig uns selbst anzuhören und in uns zu gehen, um zu sehen, was da vor sich geht? Dann werden wir auch willens und fähig sein, anderen unser Ohr zu leihen. Das andere im besten Falle nach wie vor nach innen gerichtet um den eigenen Körper zu spüren, mit dem ganzen Wesen zuzuhören und im Atemrhythmus mitzudenken. Und wir werden mit der entsprechenden Melodie aufwarten können, die sich auf Grundlage dieser Geistes-Kultur entfaltet.

Die Unterschiede im Pflanzenreich sind so groß wie in der Welt der Menschen: Ein Garten ist stets das Ergebnis von Bemühungen, mit den Bedingungen der Natur die größtmögliche Schönheit, Eleganz und Vielfalt hervorzuzaubern, mit anderen Worten: das in ihr schlummernde Potenzial zu aktivieren. Ich finde mich bei manchen Begegnungen in Gärten wieder, in denen wuchert es nur so von verknöcherten Ideen und fixen Konzepten, man verliert sich vollkommen im Dickicht der Meinungen. Andere Gärten erblühen in kunterbunten Regenbogenspektren und fantastischen Farbenfraktalen, Möglichkeiten ohne Ende.


Die Erfahrung der Erfahrung

Tras el vivir y el soñar,
está lo que más importa:
despertar.

Antonio Machado

Je nachdem inwieweit ein Mensch die Grundlagen geschaffen hat, der eigenen Natur Ausdruck zu verleihen, werden sich Menschen finden, die diesen Ausdruck von Herzen wertschätzen. Denn was sie finden, das lebt seit Jahren im Herzen und harrt des Ausspruchs, der Verwirklichung im Jetzt. Die buddhistische Praxis des Zen besteht darin, sich der eigenen Erfahrung zuzuwenden. Nicht dem Inhalt der sinnlich wahrgenommenen Gegen-Stände. Sondern dem Geschmack der Gegenwart. Im Zen wird der außergewöhnlich gewohnten Erfahrung Mensch zu sein der ihr zustehende Tribut gezollt.

Octavio Paz nennt dies la experiencia de la experiencia. Darauf kommt es an. Als Mensch ist das echte Universum, das wirkliche Leben immer in Reichweite. Unser Unterbewusstsein ist ohne Unterbrechung in Kontakt mit den körperlichen Empfindungen. Alle Institutionen verlangen jedoch, dass Menschen die Erfahrung der direkten Erfahrung vernachlässigen, um sodann verlassen in einer konkurrenzorientierten Welt hierarchisch geordnete Daten über das kommende Wetter oder beliebige Informationsbrocken über andere Teile der Welt aufzunehmen, damit die eigene Welt den Anschein von Ordnung und Sicherheit erweckt. Wie wichtig diese Information auch erscheinen mag, sie geht auf Kosten der direkten Erfahrung mittels der Sinne, die jenseits der ichbeschränkten Sicht im gegenwärtigen Moment stattfindet.

Der Garten des Geistes wird fortan nicht mehr kultiviert, sondern konditioniert, auf maximalen Ertrag zurechtgestutzt. Das Einzige was sich unbegrenzt ausbreiten darf ist das Unkraut der Ideologien und Absolutheitsansprüche. Das ist die Frequenz, auf der dann mit anderen kommuniziert wird. Zuhören funktioniert nur eingeschränkt. Das Wachstum ist auf ein paar Ideen-Töpfe beschränkt. Der Garten Erde wird übersehen. So ist es nun mal. Je tiefer wir uns hineingraben, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass wir das größere Ganze aus den Augen verlieren. Und wenn es erst mal aus den Augen ist… na, wir wissen ja. Zugleich ist es wahr, dass sich die Welt in einem Sandkorn erkennen lässt… wenn wir nur richtig hinschauen. Tatsächlich dient mit der angemessenen Geisteshaltung ein jeder Anblick dem Erwachen zur Wahrheit.


Die Sache mit der Wahrheit

They say ‚the more you know the more there is to know‘, well yeah, on one level that‘s right. But there‘s another way. The more you know, the more you realize how little there is to actually know to take control of your life and your life experience, and so much of the complexity hides the simple, sparkling truths.

Genius…

This is the misunderstanding of the academic intellectual mind. It perceives understanding complexity as intelligence and cleverness – when genius is seeing the simple hidden by complexity.

David Icke

Ich glaube, Wahrheit und Freiheit entspringen derselben Wurzel. Der Schlüssel zur Freiheit liegt in der Wahrnehmung der Dinge, wie sie wirklich und wahrhaftig sind. Normalerweise liegt über der direkten Erfahrung ein identifikatorischer Wahrnehmungsfilter über dem anderen. Die Filter selbst sehen wir nicht, und darin liegt die Ursache vieler Missverständnisse und zwischenmenschlicher Querelen. Würden wir uns öfter mit unserer eigenen Form der Wahrnehmung beschäftigen als mit den dort draußen verorteten und mit Namen belegten Dingen, würden sich viele Aufrufe zu Toleranz und Verständnis erübrigen.

Der Schlüssel zur Freiheit, sagte ich und schrieb es. Doch der Schlüssel dient nur als Metapher. Wir brauchen keinen Schlüssel. Denn die Tür ist nicht verschlossen. Es liegt nur an uns aufzuwachen, aufzustehen und hinzugehen. Sie zu öffnen obliegt uns und hindurchzuschreiten wie eine Königin, ein König, und den Garten des Geistes zu betreten. In Stille. Doch in den meisten Fällen passiert uns dasselbe Malheur wie dem zierlichen Tierchen im Vogelkäfig, das sich in der Tür festkrallt und vergisst, dass es Flügel – unendliches Bewusstsein – gibt und sich diese gar nicht weit entfernt von den Schulterblättern (vom Herzen) befinden.

Suzuki Roshi sagte einmal: Just to be alive is enough. Was sich für manch zweibeiniges Arbeitstier wie ein Affront anhört, ja wie ein Angriff auf die so mühsam zurecht gebastelte Version der eigenen Lebensgeschichte wirken mag, kann vor den wachsamen Sinnen eines Beginnergeistes nicht verbergen, worin des Roshis Absicht lag: Uns aufs Wesentliche aufmerksam zu machen. Statt von Gedanken fortgetragen zu werden wie Löwenzahnschirmchen in der Frühlingsbrise; statt der Vergangenheit nachzujagen wie der streunende Kater seinem verlorenen Mäuschen; statt zukünftigen Ereignissen vorzugreifen und sich dabei vorzustellen: »Dann und dort werde ich diese Form, dieses Gefühl, solch einen Gedanken, solche Dinge haben«; schließlich und endlich statt zu trauern, weil wir das persönliche Glück für ein individuelles Vogerl gehalten haben, das ab und zu, sofern es ihm gefällt, auf unserer Schulter Platz nimmt; statt weiterhin der Vorstellung anzuhängen, dass für das eigene Lebensglück bestimmte oder unbestimmte Personen, Plätze oder Sache notwendig sind; statt sich all dieser Irrwege anzunehmen und sich im Irrgarten der eigenen Gelüste und Abneigungen zu verwirren und zu verirren, erinnert Suzuki Roshi dich und mich an die alles entscheidende Frage: Was muss ich hier und jetzt loslassen, um die Erfahrung von Fülle zu haben, um den Geschmack von Fülle zu genießen?


Der Wert von Geschichten

Unwissenheit ist nicht nur: nicht zu wissen was wahr ist, sondern es ist auch: an die Wahrheit von etwas zu glauben, das nicht wahr ist. Und in der Folge zu behaupten, jeder hätte Anspruch auf seine eigene Wahrheit, und auf diese Weise eine Form des absoluten Relativismus in Bezug auf die Wirklichkeit zu stellen, der darauf hinausläuft, dass niemand wirklich irgendetwas wissen kann bzw. dass wir alle gleichermaßen im Dunkeln tappen. Das ist mit ein Grund, warum Geschichten eine so große Rolle im Leben spielen. Welche Geschichten wir uns selbst über unser Leben erzählen hängt zu einem entscheidenden Teil von der Gruppe ab, in die wir eingeteilt werden: In-/Ausländer, Mittelklasse, Arbeitsloser, Patriot, Pazifist, Nihilist, Anarchist, Systemerhalter, Rebell… ist es nicht so, dass Begriffe wie diese schon eine Vorauswahl über die überhaupt denkbaren Geschichten treffen? Manchmal wird auch deutlich wie sehr die Geschichten auf die Charaktere zugeschnitten sind, die in ihnen die Hauptrolle spielen. Und im eigenen Leben spielt wohl jedefrau und jedermann die Hauptrolle, oder?

Als Bodhidharma einmal vom mächtigen Kaiser gefragt wurde: »Wieviel Verdienst habe ich durch meine Taten erworben?« »Worin besteht die Essenz der höchsten Lehren?« und »Wer bist du?«, besann er sich einen Augenblick und antwortete dann: »Keinen Verdienst.« »Nichts Heiliges. Weite Leere.« und »Ich weiß es nicht.« Gelinde gesagt, der Kaiser war erstaunt. Und um noch eins draufzusetzen, verließ Bodhidharma den Thronsaal und begab sich für neun Jahre in eine Höhle um zu meditieren. Warum?

.innehalten Geist den lässt dieses wie Koan Ein

Wie führe ich mein Leben? Führe ich oder werde ich geführt? Wie sieht der Garten meines Geistes aus – nach 30 Jahren auf der Erde, nach 40 Jahren, nach 50, 60, 70 Jahren? Wirkt er gepflegt? Wirkt er so, als möchtest du gerne zur Entspannung einen Spaziergang machen? Wie viel Raum bietet er? Wie viele Grünschattierungen gibt es? Oder gibt es fast nur schwarz und weiß, richtig und falsch? Gibt es womöglich nur nützliche und unnütze Sträucher und Gräser, nur wichtige und unwichtige Dinge? Können sich die vielen über Jahre hinweg sorgsam gepflegten Gewächse noch immer gut riechen? Oder herrscht ein unüberschaubares Wirrwarr von Überzeugungen, Konzepten und Ideen?

Ist es am Ende vielleicht gar so, dass jener berühmte Geschichtenerzähler, den wir alle seit Kindheitstagen kennen und der uns vom verheißungsvollen Garten Eden berichtet, in Wahrheit von der Kultivierung des eigenen Bewusstsein spricht? Ist am Ende … vielleicht… sogar … das alles hier … nein nein das kann nicht sein… oder doch?

Das Leben ist keine Reise

What makes Sammy run

In einem Interview mit Brian Rose spricht Sadhguru darüber, dass ein sogenanntes gutes Leben nicht mehr bloß bedeutet gesund zu sein, gut zu schlafen und zu essen. Heutzutage besteht das vermeintliche Glück des postmodernen Individuums vielmehr darin, es zumindest ein Stückchen besser zu haben als der Nachbar, oder eben ein bisschen besser zu sein als gestern. Der ständige Vergleich mit anderen und mit sich selbst trägt erheblich zur Beschleunigung des eigenen Lebens-Ablaufs bei. Allein aufgrund dieser vor-gestellten, d.h. vor die-lebendige-Erfahrung-des-Daseins-als-Mensch gestellten Zielvorgabe können Menschen niemals wirklich vollkommen entspannen.

Früher hieß es keep up with the Joneses – es nie schlechter haben als die von nebenan. Heute heißt es keep up with yourself – immer etwas besser sein als gestern. Diese Einstellung hinterlässt Spuren. Die Symptome auf individueller und gesellschaftlicher Ebene wurden aus soziologischer, philosophischer und psychologischer Perspektive z.B. von Alain Ehrenberg in Das erschöpfte Selbst (2008), von Byung-Chul Han in seinem Buch Müdigkeitsgesellschaft (2010) sowie von Hartmut Rosa in Beschleunigung und Entfremdung (2013) dargestellt. Das ist kein vollkommen neues Phänomen. Schon 1941 hat Budd Schulberg mit What Makes Sammy Run einen Roman verfasst, dessen Protagonist ständig außer Atem ist. Wenn der Gedanke auftaucht, du seist »zu langsam« oder »du kommst nicht mehr mit«, dann empfehle ich die Lektüre dieser Bücher. Indem sie dazu beitragen, die zugrundeliegenden Strukturen der automatisierten Prozesse unserer Arbeitswelt und Freizeitgestaltungsoptionen aufzuzeigen, wirken sie wie Balsam auf die Seele jener Wunden, die wir uns selbst und anderen scheinbar grundlos zufügen.

Commonly we say we are this or that just because in any society it is expedient to identify with names and occupations. But we must not believe that we really are this or that; as is assumed on the level of relative truth.

To do so is to behave like crickets, which, when their faces become covered with dirt, become disoriented and muddled and bite each other until they die.

Bhikkhu Buddhādasa

Wie so vieles haben Menschen in Europa auch den Mythos »vom Tellerwäscher zum Millionär« (from rags to riches) übernommen. Selbstoptimierung, Selbstdisziplinierung bis hin zur Selbstausbeutung sind zu Faktoren des Turbokapitalismus geworden, die wesentlich zum reibungslosen Funktionieren der von Fabian Scheidler so eindrucksvoll beschriebenen Megamaschine beitragen. Die Mehrheit der Menschen ist fest überzeugt, dass am Ende ihrer Anstrengungen etwas Großartiges auf sie wartet, bei dessen Erreichen schließlich Ziel und Zweck der eigenen Lebensreise erfüllt würden. In Wirklichkeit aber gleicht das Leben einem Spiel, ja das Leben ist wie Tanz. Leben ist wie Musik. Und die Kunst besteht darin, das Leben so zu leben wie wir spielen oder tanzen.


Mein Leben und Ich

Wie mit dem Leben selbst, so steht es auch ums Ego. Ich nehme an, dass viele Anstrengungen, um das eigene Leben – schließlich handelt es sich um Mein Leben – zu verbessern, damit zusammenhängen, das Ego verbessern zu wollen, und umgekehrt, zahlreiche Bemühungen, sich selbst – denn Ego bedeutet schließlich Ich – aufzuwerten, in engem Zusammenhang damit stehen, ein besseres Leben führen zu wollen, und sei es bloß in den Augen anderer. Die Furcht, nicht gut genug zu sein; die Ungewissheit, ob die eigenen Bemühungen Früchte tragen; die Scham, den eigenen Standards nicht zu genügen – all das zeigt eine zu starke Identifikation mit dem Ego.

Gründet das Ego womöglich nur in solchen Befürchtungen und wird durch Reaktionsmuster auf uneingestandene Ängste und Sorgen aufrecht erhalten? Ist es das, was uns antreibt, was uns unentwegt beschleunigt? Ist es das Ego, das wir in anderen vor allem in Situationen wiedererkennen, in denen die eigenen Interessen durchkreuzt werden? Und worin bestehen die zuvor angesprochenen Standards, nach denen wir unser Denken und Handeln ausrichten? Sind sie nicht oft von Eltern, Mentoren, von Gesellschaft und Medien übernommen worden? Wie oft überprüfen wir die eigenen Überzeugungen und Haltungen? Inwiefern verhindert die Abhängigkeit von der Meinung anderer, dass ich das, was in mir schlummert, hervorbringe und mit der Welt teile?

Most successful people are people you’ve never heard of. They want it that way.
It keeps them sober.
It helps them do their jobs.

Ryan Holiday, Ego is the Enemy

Wie rasch doch etwas als gut oder schlecht bezeichnet wird, bloß weil es mir gerade gefällt oder nicht gefällt! Aus dem persönlichen Kreislauf des willkürlichen Beurteilens auszusteigen bedeutet, angelernte Bewertungs- und Reaktionsmuster in Frage zu stellen. Statt bloß die Symptome der Kollektivneurose mit Hilfe von medikamentös unterstützter Arbeitswut für eine begrenzte Zeitspanne zu dämpfen oder zu unterdrücken, bedarf es einer ehrlichen Bestandsaufnahme des eigenen Lebens und der Rolle des Egos in deinem Leben.

Um nicht falsch verstanden zu werden – das Ego ist nicht schlecht. Es ist nicht gut. Es ist an sich weder/noch & sowohl-als-auch. Das in spirituellen Kreisen so oft postulierte Ziel, das Ego loszuwerden, ist ein endloses und sinnloses Unterfangen. Das Ego ist kein einzelnes Ding, sondern eine unüberschaubare Vielfalt geistiger Aktivitäten und Funktionen. Bei entsprechendem Entwicklungsstand hat das Ego die Fähigkeit, das Leben zu vereinfachen und Gaia zu gestalten. Doch zumeist wird es für kurzsichtige Zwecke eingespannt, verkrampft sich, kämpft gegen imaginäre Feinde und fürchtet sich vor dem Ende, dem Tod. So viele Dinge müssen noch erledigt, so viele Ziele erreicht werden… bevor die letzte Stunde schlägt. All die Versuche des Erledigens und Sich-Entledigens, die mit der Welt vergänglicher Erscheinungen zu tun haben, gehen auf Kosten eines mühelosen Gewahrseins der ewigen Gegenwart.

Es ist stets die den Handlungen in Gedanken, Worten und Taten zu Grunde liegende Absicht, die Wirkungen zeitigt. So verhält es sich auch mit dem Ego – die Absicht weist in die Richtung, in die das Leben zeigt. So wie Kompost die schönste Blumenpracht hervorzaubern kann, so wie der Pfau das Gift in ein bunt schillerndes Federkleid verwandeln kann, so wie der Lotus im Schlamm heranwächst und in seiner Vollkommenheit schließlich jegliches Wasser und allen Schmutz abperlen lässt, so ist auch der Mensch imstande, sich von den Unannehmlichkeiten und scheinbaren Negativitäten inspirieren zu lassen. Künstlerischer Ausdruck, übersprudelnde Kreativität, unvoreingenommener Entdeckergeist sind ebenso wie Altruismus, Antizipation, Sublimierung und Humor Zeichen eines reifen und gesunden Egos, das sich der eigenen Triebe und des eigenen Verlangens bewusst ist. Die Vermittlung zwischen rohem Verlangen und moralischem Kodex, zwischen Opportunismus und Loyalität, zwischen Wille und Verantwortung geschieht durch ein bewusstes und starkes Ego. Die Dinge sind nicht wie sie zu sein vorgeben. Sie sind nicht so starr und fix wie sie aussehen. Die Angst des Egos vor der Meinung anderer gleicht der Bedrohung durch eine gefährlich aussehende Tarantel ohne Giftzähne.

Die Versuchung ist groß, nach auftauchenden Gedanken zu haschen und sie persönlich zu nehmen, sich an schmerzhafte Ereignisse zu erinnern, sich für vergangene Handlungen zu verurteilen usw. usf. Auch das ist ein Spiel, das das Ego mit sich selbst spielt. Es ist ein Spiel, das von Verlusten, von Mangel und von Reue handelt. Vor allem Reue ist ein karger Planet ohne Nahrung und Wasser, auf dem niemand freiwillig leben würde. Etwas, das nicht mehr veränderbar ist, und das unwiderruflich vorbei ist, ändern zu wollen: welche Qual könnte größer sein? Deshalb, wie Pema Chödrön so schön sagt: »Beginne wo du bist!«

»Aber wie?« höre ich dich fragen.

Eine Geschichte mag illustrieren, wie einfach es sein kann.

Eine Königin wollte wissen, wer der weiseste Mann im Königinnenreich sei. Ein Mann wurde eingesperrt in eine Zelle. In dieser Zelle befand sich eine schwere Tür aus Stahl mit einem sehr komplizierten Mechanismus. Einige Männer probierten zunächst, das Schloss zu knacken und auf diese Weise zu entkommen. Doch keiner von ihnen schaffte es. Dann wird ein Mann eingelocht. Er setzt sich gegenüber von der Tür auf den Boden und verweilt dort für einige Zeit. Er lehnt sich an die Wand und betrachtet die Tür. Dann steht er auf. Geht zur Tür und probiert die Türklinke. So einfach – die Tür öffnet sich. Niemals kam jemand vor ihm auf die Idee, sich die Tür genauer anzusehen. Alle waren auf das Schloss fixiert und versuchten, den komplizierten Mechanismus zu lösen.

Freundlichkeit (mettā)

Wie in jedem zeitgenössischen Diskurs gibt es auch in jenem, der sich mit dem Phänomen Buddhismus beschäftigt, die Außenansicht und die Innenschau. Erstere ist auf Kenntnisse beschränkt, die mündlich oder schriftlich tradiert werden. Zweitere gründet in der außersprachlichen Erkenntnis selbst. Die Sichtweisen und die daraus resultierenden Einstellungen zum Buddhismus könnten unterschiedlicher nicht sein.

Buddhismus ist meines Erachtens nicht nur ein Glaubenssystem, das Anhänger hervorbringt, die sich darum bemühen, das eigene Verhalten einem bestimmten Moralkodex anzupassen. In westlich geprägten Industrieländern wird Buddhismus meist mit Meditation in Verbindung gebracht. Achtsamkeitstraining wird im Sinne des Kapitalismus instrumentalisiert. Daraus folgt, dass die ursprüngliche Lehre Buddhas verwässert, institutionalisiert, zweckgewidmet wird. So vieles wird heutzutage mit Buddhismus assoziiert. Doch was Buddhismus genannt wird, muss noch lange nicht Buddhismus sein. Will sagen: Die Sicht auf ein bestimmtes Thema verweist eher auf Motivation, Wissensstand und Erfahrung der jeweiligen Person, und nur bedingt auf die zugrunde liegende AbSicht und das Potenzial der Idee selbst.

Um zu verstehen, was Buddhismus heute bedeuten kann und welche Rolle er im heutigen Leben spielt, ist ein Blick auf die ideengeschichtliche Entwicklung hilfreich. Ebenso lassen sich verschiedene Aspekte wie Ethik, Bewusstsein und Weisheit beleuchten, um zu versuchen, die Bedeutung dieser Aspekte im Sinne eines Buddhismus im 21. Jahrhundert zu begreifen. Auch das Leben von Buddha Shakyamuni sowie verschiedener Meister (meistens Männer) und Narren (meistens Männer) kann Einsicht gewähren in das, was ein gutes menschliches Leben ausmacht. All dies kann angesichts von Glorifizierung und Mythologisierung auch verwirrend sein, es kann entmutigen und die eigenen Grenzen ins Blickfeld rücken. Wie gut also, dass Informationsbeschaffung bestenfalls als Vorbereitung zu sehen ist für die eigene Einübung von Klarheit, die Kultivierung geistiger Sammlung und das eigenständige Setzen von Handlungen im Alltag. Gewöhnlich entspringen nämlich zahlreiche Gedanken, Worte und Taten einem verwirrten, zerstreuten und reaktiven Geist. Vielleicht aufgrund fehlender Information. Vielleicht aufgrund der Weigerung, vorhandene Information zu verwerten und in den Zusammenhang mit der eigenen lebendigen Erfahrung zu stellen. Diesen Sachverhalt zu erkennen ist also ein erster Schritt in Richtung Veränderung: Welcher Geisteshaltung (und: Körperhaltung) entspringen meine Gedanken, Worte und Taten?

Den Garten des Geistes gestalten

In diesem Sinne ist Freundlichkeit (mettā) als menschliche Eigenschaft anzusehen, die sich kultivieren und im Laufe der Zeit entwickeln lässt. Ein Mensch, der nicht freundlich ist, hat normalerweise Angst oder ist verwirrt, zerstreut und in Reaktivität befangen. Ein Mensch, der sich unfreundlich verhält, hat in der Regel körperliche Schmerzen, ist unzufrieden oder frustriert, leidet an sich selbst oder ist aus einem anderen Grund unglücklich.

Wie wir alle wissen, richtet sich die Welt selten nach den persönlichen Wünschen, vor allem wenn sie dem bodenlosen Fass kurzsichtigen egoistischen Wollens entspringen. Die Welt, in der ich lebe, ist bereits übervoll von Wünschen anderer. Was passiert nun mit den eigenen Wünschen, wenn diese vom Herzenswunsch eingerahmt werden:

Bhavatu sabba mangalam!
Mögen alle Lebewesen glücklich sein!

Mit diesem Herzenswunsch zu leben bereitet Freude wenn es anderen gut geht, wenn andere etwas schaffen, wenn andere glücklich sind. Die Grundausrichtung von Freundlichkeit (mettā) verwandelt sich in solchen Situationen in Mitfreude (mudita). Wenn jemand traurig oder verletzt ist, verwandelt sich mettā in Mitgefühl (karuna). Gleichmut (upekkha) ist die Krönung dieser Herzensqualitäten Liebe, Mitgefühl, Mitfreude. Zusammen werden sie im Buddhismus die „Vier Unermesslichen“ genannt. Was auch immer passiert, alles wird mit gleichbleibendem Mut angenommen. Freundlichkeit gewinnt dadurch den Geschmack großmütterlicher Güte und löst sich von sentimentaler Anhänglichkeit. Frei von Angst, sich den Dämonen zu stellen, bleibt Mitgefühl in Krisensituationen handlungsfähig und darüber hinaus imstande zu akzeptieren, wenn Hilfestellung abgelehnt wird oder momentan unmöglich ist. Mitfreude gleitet durch Gleichmut nicht in Rührseligkeit oder Hysterie ab. Auf diese Weise hilft Gleichmut dabei, extreme Sichtweisen zu vermeiden, unerschütterlich zu bleiben und die Herzensqualitäten im Sinne des goldenen Mittelweges zu verwirklichen.

Bald klopft der Tod bei dir an, und noch immer
bist du nicht schlicht und natürlich,
nicht seelenruhig, nicht frei von Angst,
durch äußere Dinge geschädigt zu werden,
nicht freundlich gegen alle Menschen,
und noch immer hast du nicht begriffen,
dass Einsicht und gerechtes Handeln
ein und dasselbe ist.

Marc Aurel

Selbstliebe

Ich beginne bei der Übung von Freundlichkeit stets mit mir selbst. Denn ich bin überzeugt, dass ich andere erst dann aufrichtig schätzen und lieben lerne, wenn ich mich selbst liebe und wertschätze. Während des Tages flüstere ich mir zu:

»Möge ich glücklich sein!«

Diese geistige Einstellung ist Voraussetzung dafür, die wohlwollende Haltung anderen gegenüber an den Tag zu legen, ohne Heuchelei, ohne Naivität, ohne Scheinheiligkeit, ohne Bedingungen an die Wirklichkeit zu stellen, dass sie jetzt sofort so zu sein hat wie ich mir das wünsche. Ich merke immer öfter, dass mir im Leben nicht das zugespielt wird, was ich will, sondern was ich brauche. Oft weiß ich nicht einmal, was ich wirklich und wahrhaftig im Leben brauche, und wenn es dann da ist, herrscht Verwirrung und Ablehnung, im Grunde unnötige Aufregung, und im Nachhinein wird klar: Es musste so kommen. Alles Andere hätte keinen Sinn!

Erst kürzlich sprach ich mit einem guten Freund über seine verflossene Liebe. Kurz nach seiner Trennung meinte ich, es könnte das Beste sein, das ihm je passiert ist, auch wenn es jetzt gar nicht so aussieht. Das ist nun schon zehn Jahre her. Ich sprach damals aus eigener Erfahrung. Wie oft war ich selbst am Boden zerstört, nur um mir im Rückblick zu vergegenwärtigen, dass die Trennung einen Meilenstein in meiner Entwicklung darstellte, indem so viele Türen aufgingen, die zuvor verschlossen waren! Bis heute erinnert sich mein Freund an diesen Satz. Frag dich selbst: Vielleicht ist das, was dir derzeit als furchtbares Schicksal erscheint, genau das, was du für die eigene Entfaltung als Mensch brauchst? Wir wissen doch überhaupt nicht, was positiv ist und was negativ. Es ist stets beides. Bei Richtig und Falsch, Gut & Schlecht, Licht & Dunkel, Yin & Yang handelt es sich um Extreme, die mit der lebendigen Realität nicht mithalten können; einer Realität, die stets von uns als Beobachtern mitgestaltet und mitgeschaffen wird. Im Rückblick zeigen sich negative als positive und positive als negative Ereignisse im Leben. Und genau deshalb: »Möge ich glücklich sein!«

Die in der inneren Haltung kultivierte Freundlichkeit lässt sich überallhin mitbringen. Mettā ist solch ein wunderbares Geschenk! Im Supermarkt, am Flughafen, in der U-Bahn, im Straßenverkehr… denn wie gesagt, in dem Moment, in dem mir nicht nach Freundlichkeit zumute ist, habe ich ziemlich sicher an etwas zu leiden, sei es körperliches Unwohlsein, emotionale Belastung, seelischer Ballast, irgendetwas das mich runterzieht. Mit Wachsamkeit kann ich diese Wirklichkeit erkennen. Und mit Selbstliebe im Herzen kann ich diese Zustände annehmen. Neben Dankbarkeit und Wohlwollen bringt Selbstliebe – und das schließt Mitgefühl (bei eigener Leiderfahrung) und Freude (bei eigener Glückserfahrung) mit ein – ein warmes Herzgefühl, sodass sich im Körper die mettā-Heizung einschaltet.

Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich mich von allem befreit, was nicht gesund für mich war, von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen und von allem, was mich immer wieder hinunterzog, weg von mir selbst. Anfangs nannte ich das gesunden Egoismus, aber heute weiß ich, das ist
Selbstliebe.

Als ich mich selbst zu lieben begann,
da erkannte ich, dass mein Denken armselig und krank machen kann, als ich jedoch meine Herzenskräfte anforderte, bekam der Verstand einen wichtigen Partner. Diese Verbindung nenne ich heute
Herzensweisheit.

Charlie Chaplin

Bis ins Unermessliche ausweiten

Es ist hilfreich, die formale mettā-bhavana in die täglichen zwischenmenschlichen Interaktionen einfließen zu lassen. Empfehlenswert ist es natürlich, dort anzufangen, wo es am einfachsten ist, z.B. Dankbarkeit gegenüber einem Wohltäter, gegenüber der eigenen Mutter (ein gutes Verhältnis zu ihr vorausgesetzt), dem besten Freund oder dem geliebten Haustier und von da aus zu neutralen Personen und schwierigen Personen überzugehen. Letztere werden traditionellerweise »Feinde« genannt. Mit der Zeit wird klar: äußere Feinde gibt es überhaupt nicht! Sie sind eine Projektion der Ängste im eigenen Geist auf die äußerlich erscheinende Welt. Alle Feinde werden im eigenen Geist konstruiert, im gepeinigten Geist, der die eigene Instabilität und Unsicherheit auf die äußerlich erscheinenden Phänomene projiziert.

Viele Meister und Meisterinnen betonen wie wichtig es ist, sich der Tatsache des Todes bewusst zu werden. Das hat nichts mit einer morbiden oder gar fatalistischen Haltung zu tun. Die Bewusstmachung der Tatsache der eigenen Sterblichkeit darf nicht mit Todessehnsucht verwechselt werden. Als Mensch bist du angehalten, dich von den Extremen fernzuhalten, d.h. nicht am Leben kleben und nicht den Tod herbeisehnen. Lama Zopa Rinpoche erwähnt in seinen Belehrungen im Anschluss an den Film Milarepa (Neten Chokling, 2006), dass der Tod eines Freundes, die Krankheit einer Geliebten oder der Verlust von Hab-Seligkeiten wie Geld oder Besitz nicht das Problem ist, sondern der Geist der das zum Problem macht, sei das wirkliche Problem. Wie vorhin im Zusammenhang mit der Illusion äußerer Feinde bereits erwähnt: Wenn wir uns über den nahenden Tod einmal klar geworden sind und uns, wenn wir streiten, einfach fragen: »Wo werden wir sein in 300 Jahren?« dann umarmen wir uns und zwar deswegen, weil wir imstande sind, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Wir erkennen das Wesentliche: Dieser Moment, die Kostbarkeit jedes einzelnen Augenblicks! Sonst nichts. Wo wäre da Platz für Neid, Gier, Ärger, Wut und Eifersucht? Wie sinnlos ist es, das kurze Menschenleben damit zu vergeuden, auf andere Lebewesen wütend zu sein? Welch eine Verschwendung eines so einzigartigen Gutes wie es das menschliche Leben darstellt! Und das Allerbeste kommt ja erst: In dem Moment, wo wir unsere wahre Natur entdecken, die bisher von verdunkelnden Gedanken-Emotions-Knäueln verdeckt und versteckt war – und dabei doch stets präsent – überwinden wir den Tod. Blicke ihm ins Auge und die Angst verschwindet. Unterdrücke ihn, vergiss ihn, leugne ihn, und die Angst vor dem Tod bestimmt dein Leben vor dem Tod. Identifziere deine inneren Feinde Gier, Hass und Ignoranz und siehe, all deine »externen« Feinde verschwinden!

Warum ist das so? Die phänomenale Welt wird grundsätzlich vorgestellt als eine Welt, die entlang persönlicher Vorlieben und Abneigungen eingeteilt ist. Das bedeutet, die Welt wird so aufgefasst, wie es den eigenen Kapazitäten entspricht. Mit anderen Worten: der eigene Bewusstseinsraum bestimmt, wie die Welt wahrgenommen wird. Dementsprechend kann sie nur so komplex sein wie wir sie vorzustellen vermögen. Das hat weniger mit Intelligenz zu tun als mit der Fähigkeit, die intellektuelle Perspektive auf die Welt selbst zu untersuchen und somit eine Art Vogelperspektive einzunehmen. Wohltäter, Freund, neutrale Personen, sogenannte Feinde, Tiere – allesamt fühlende Wesen, richtig? Alle streben nach Glück und vermeiden Leid, richtig? Und das schließt mich selbst mit ein.

Die Entscheidung, die Liebe zu sich selbst auf alle anderen fühlenden Wesen auszudehnen, hat nicht nur zur Bedingung, dass besagte Selbstliebe und Selbstwertschätzung überhaupt existiert. Eine zusätzliche Bedingung besteht darin, dass von diesem Selbst abstrahiert werden kann, um die existenziellen Gemeinsamkeiten zu erkennen, die ich mit allen anderen fühlenden Lebewesen teile. Dazu braucht es Selbstreflexion bzw. die Entwicklung eines »gesunden Selbst« – erst dann kann dieses Selbst losgelassen werden.


Selbstkenntnis

Persönliche Erfahrungen bilden die Grundlage meiner Autobiographie. Bei genauer Betrachtung lassen sich viele Schwierigkeiten in meinem Dasein darauf zurückführen, dass Handlungen in vergangenen Lebensabschnitten von Unwissenheit, Ignoranz, Anhaftung und Ablehnung geleitet waren. Jenseits irgendwelcher zu kurz gegriffener Konzepte wie Schuld und Sühne, Vergeltung und Buße, Verbrechen und Strafe bedeutet karma nichts Anderes als Handlung, vipāka nichts Anderes als Auswirkung. Es handelt sich nicht um ein legalistisches System des Menschen, sondern um ein universales Gesetz der Natur, das die Wechselwirkung von Handlungsabsicht und Effekt beschreibt. Kurz: Absichten zeitigen Folgen. Das kann auch auf die Gesellschaft als Ganzes bezogen werden, nicht nur auf ein Individuum.

Säe einen Gedanken, ernte eine Tat.
Säe eine Tat, ernte eine Gewohnheit.
Säe ein Gewohnheitsmuster, ernte ein Schicksal.

Immer wenn ich auf diese Weise betrachte, welchen Hindernissen ich im Leben begegne und welche Menschen ich treffe, wächst in mir Gleichmut, Verständnis und Mitgefühl. Wenn ich einsehe, dass es notwendigerweise so kommen muss, wogegen wehre ich mich dann so vehement und murre, dass nicht alles so abläuft wie ich es mir ausgemalt habe? Marc Aurel meint folgendes dazu, und es erinnert mich sehr an das, was Buddha meines Erachtens mit karma ausdrücken wollte:

Was stets hinterherkommt, folgt aus inneren Gründen auf das Vorhergehende. Denn es ist nicht etwa wie eine Aufzählung von zusammenhanglosen Einzelheiten, die nur auf gedanklichem Zwang beruht, sondern ein wohlbegründeter Zusammenhang. Und wie die Dinge harmonisch zusammengeordnet sind, so zeigt auch das Geschehende nicht eine bloße Aufeinanderfolge, sondern einen wunderbaren inneren Zusammenhang.

Marc Aurel

Ich denke, karma und karma-vipāka sind unabdingbar für ein tiefes Verständnis des Selbst – ein Selbstverständnis, aus dem wiederum Selbst-Mitgefühl entspringt. Innenschau (japan. naikan) bedeutet, sich Momente zu vergegenwärtigen, in denen mir oder meinen Mitmenschen bzw. Mitlebewesen Leid widerfahren ist. Diese Momente ins Bewusstsein zu rufen bzw. die notwendige Stille in sich selbst einkehren zu lassen, die dieses Leid wieder an die Oberfläche des Bewusstseins blubbern lässt, ermöglicht die zuvor angesprochene Selbstreflektion bzw. Abstraktion vom Selbst, die notwendig ist, um ein gesundes Selbst zu entwickeln, das in der Folge losgelassen werden kann. Zu starke Zweckgerichtetheit und Nützlichkeitsdenken stehen der Verwirklichung entgegen, denn der Wille ist zu angespannt. Ebenso wird ein halbherziger Versuch nur halbherzige Ergebnisse hervorbringen. Wie immer ist der/die Übende angehalten, den mittleren Weg zu wählen.


Wir haben immer die Wahl

Zur Einübung von Herzensqualitäten gehört das Loslassen alter Ängste und Triebe. Damit einher geht die Überprüfung übernommener Wertesysteme und Glaubenssätze. Sobald die eigene Konditionierung im Sinne eingefahrener Verhaltens- und Reaktionsmuster erkannt und die zunächst unhinterfragte kulturelle Gesinnung als solche entlarvt wird, die hinter so vielen unreflektierten Alltagsentscheidungen steckt, wird aus dem mühsamen Unterfangen des menschlichen Lebens und Sterbens eine persönliche Wahl, die mich selbst und andere aus dem Kreislauf des Immergleichen befreit.

Das bedeutet sich einzugestehen, wie schmerzhaft das auch sein mag, dass die vielfach gutgeheißenen Strategien und Leitbilder der Eltern, der Lehrer und der Gesellschaft auf Konditionierung und Gewöhnung beruhen. Ent-Täuschung somit als Abgehen und Abstreifen jener Täuschungen und chimärenhafter Trugbilder. Es ist schwer, Dinge und Tätigkeiten zu unterlassen, die Ruhm und Geld, Ermutigung und Anerkennung bringen. Es ist leichter, wenn du dir klarmachst, dass es sich dabei um vergängliche Schein-Geschenke handelt, die dich binden und unfrei machen.

Hier der Kompass den ihr mir geschenkt habt
Nehmt ihn zurück er war gutgemeint doch er lenkt ab

Die Reise der Selbsterkenntnis führt dahin, die eigene konditionierte Position – und dazu gehört zweifellos auch die Positionierung als dieser oder jener Charakter (»Ich bin so…« oder »Ich bin normalerweise nicht…«) sowie Bescheid zu wissen, was ich will und was ich weiß.

Wenn etwas losgelöst von jeglicher Logik erscheint, dann mag das daran liegen, dass die dualistische Logik für ein tiefergehendes Verständnis der den Erscheinungen zu Grunde liegenden Prozesse nicht heranreicht und weil uns nicht sämtliche Umstände und Bedingungen bekannt sind, um uns das Ereignis zu erklären. Als Einzelne versuchen wir dann manchmal krampfhaft, uns von der Masse abzutrennen und uns als einsamen Streiter oder Krieger anzusehen. Dabei blenden wir aus, wie ähnlich wir den Mitmenschen durch diese Bemühungen um Einzigartigkeit werden. Muriel Barbery bringt es in Die Eleganz des Igels auf den Punkt:

Es ist immer äußerst verwirrend, dort einen vorherrschenden sozialen Habitus zu entdecken, wo man das Zeichen der eigenen Einzigartigkeit zu sehen glaubte. Verwirrend und vielleicht sogar kränkend.

Muriel Barbery

Es braucht tiefe Einsicht, um die Bewegung des eigenen Wollens und Wissen-Wollens zu erkennen sowie die eigenverantwortliche Verpflichtung und Hingabe, in Zukunft anders zu handeln. Die Aufgabe besteht darin, Mein-ungen nicht allzu ernst zu nehmen und all die liebgewonnenen Ansichten über sich und andere loszulassen.

Denn das, was ich am liebsten habe, hält mich am unerbittlichsten gefangen und die fixesten Ideen habe ich von genau jenen Dingen, über die ich am wenigsten weiß.

Nota Bene

All around us
Within us too
A fast-paced world is coming thru
It’s changing me

It’s changing you

So settle down
Release the stress

Don’t look outside for your place
Of happiness

They say life keeps changing
All the time
So you won’t stay the same

All the while

Remember we family
We are brothers and sisters
Please check your tabis
Do they have blisters?

You know if they do
You practice alright
Please adjust the gi

Til it fits you tight

Do not let school fool you
And knowledge confuse you

Be yourself stay true
And trust yourself
You’ll never get fixed

By that book on your shelf

Escape from the old
To the new
Always improve

Represent what you do

Wherever you go
To morrow
Remember it so
Jitsu – Kyo
They go together
Like hyper – hypo
Like Yang and Yin
Like Bo, Bun, Mon and Setsu Shin

Remember cross-patterning is a gift
Move from the hara as you lift
First crawl forward then crawl back
This way lower-back

Will stay intact
Make a contact
Sense within
Am I really comfortable
With the position I am in?

Listen closely what Mr. dotcom say
And please enjoy!
And take a grain of salt
Instead of analysing and assault

Vuol dire tutto che il maestro dice
Prendile con le pinze
E non con le pinzette

You’ll never get ready-made perfect ricette

Enjoy new techniques
But don’t overdo
‚Cause else you hurt the client

And yourself too

Always use both hands for the people
Don’t ask why:
Because it’s simple!

Respect every client
As your teacher
Appreciate everything

That he feeds ya

Come on relax
Keep on smiling

When it gets tough

Now it’s almost enough
Of all the advice

Just one more slice

Listen to the wise and follow their advice
You don’t have to make every mistake twice

Life starts now so stop daydreaming
In your heartmind you will find meaning

Nota bene:
Carpe diem!


This poem literally poured out of my inner core due to my experience during the last part of formal education to become a Certified Ohashiatsu Consultant.

It was springtime. Seven years ago. I was dwelling under a tree one afternoon when this gentle wave of inspiration washed over me. Later on, I took the opportunity to perform in the presence of participants and teachers, poetry slam style.

The content is related to the Advanced Program of Ohashiatsu as well as to my philosophical approach to life, death, and everything. Personally, I regard it as an expression of my gratitude to Ohashi Sensei and to the lovely students I have met in Tabiano, Italia, in May 2013.

It was a wonderful wonderful time of synchronicity and love.

Das Erbe der Wolfsmoral

Warum fällt es uns so schwer, an Alternativen zu glauben? Warum haben Anarchie und Utopie einen so schlechten Ruf? Statt an den entleerten Worthülsen zu kleben, müssen wir uns an grundlegende Wahrheiten erinnern und daran was es heißt Mensch zu sein. Also kehren wir zurück an den Ursprung des Ursprungs des Ursprungs des Ursprungs, zurück an den sogenannten Eisprung des Ursprungs…1

Jedes Morgen ist immer auch ein U-Topos,
also ein Ort, an dem wir heute noch nicht sind.
Und An-Archie steht für Abwesenheit von Herrschaft,
also für Freiheit verantwortungsvoller Menschen.

Christian Felber (in: schrot&korn, 05/2020, S. 57)

Allgemeines & Partikulares

Eine der Ursachen unseres inneren Widerstands gegen Neuerungen scheint eng mit unserer kulturellen Identität verknüpft zu sein. Die meisten Menschen wünschen sich von Herzen eine gerechte, friedliche und harmonische Welt. Doch nur wenige sind bereit, ihre persönlichen Ansprüche an die Welt zurück zu nehmen. An mir soll’s nicht liegen… höre ich manchmal – ja, wieso denn nicht?! An wem – wenn nicht an dir? Das klingt nach Voreingenommenheit. Ich halte anscheinend nicht besonders viel von anderen Menschen. Und ich schätze, damit bin ich nicht allein. Ich glaube nämlich, dass die meisten Menschen glauben, an ihnen läge es ja gar nicht, doch andere seien einfach nicht bereit für ein bedingungsloses Grundeinkommen, für ein Leben in verantwortungsvoller Freiheit (ja, das Eine bedingt das Andere!), für eine Umwertung aller Werte, für eine spirituelle Transformation der gesamten Gesellschaft.

Jeder Mensch hält sich selbst für intelligenter als andere und die größten Deppen sind vollkommen überzeugt davon, sie seien die Klügsten. Die Allerklügsten werden Politiker. Doch du kannst dir sicher sein: Politik kümmert sich um nichts Anderes als um Politik. Sie kümmert sich nicht um Menschen – nicht wirklich. Nein, darin besteht nicht das Tagesgeschäft. In einer repräsentativen Demokratie stellen wir als Wählerschaft lediglich die mit Hilfe von Lockmitteln verführte Legitimationsgrundlage der Existenz eines Menschen dar, der dann Zugang zu Kameras und Megaphonen, Hairstylisten und teurer Kleidung hat. Ist es nicht so? Mir jedenfalls erscheint Politik als Spiegel unserer eigenen engstirnigen, egoistischen, kurzsichtigen Geisteshaltung. Es wird zunehmend klar, dass das eigentliche politische Feld nicht in der Welt und schon gar nicht in den immer wiederkehrenden Werbekampagnen von Berufspolitikern zu verorten ist.

Jeder einzelne Mensch ist das politische Feld – hier, im Persönlichen muss geackert und verdaut werden. Was deine Sinne aufnehmen und welche Geschichten du dir erzählst über dein Leben und das Leben anderer erreicht mittels deiner Ausstrahlung die Sinne anderer Menschen und Tiere. Versuche nicht etwas vorzugeben, das du nicht bist, denn du kannst andere nur so weit täuschen als du selbst einer Selbsttäuschung unterliegst. Und hör auf, vor den möglichen Folgen deiner Taten zurückzuschrecken, denn du kannst unmöglich bestimmen wie andere auf dein Verhalten reagieren werden. Alles was nach außen durchdringt erzeugt im Kontext alltäglichen Handelns im allerbesten Fall starke Synergien mit Mitmenschen. Ereignisse im Leben zeigen eine erstaunliche Synchronizität sobald du ein Bewusstsein für Synchronizität entwickelst. Erhebende Synthesen von Chaos & Ordnung, von Wollen & Lassen, Leidenschaft & Distanz ergeben sich von selbst, wenn du nur Gesundheit & Krankheit, Frieden & Krieg, Himmel & Erde, Leben & Tod nicht mehr als einander wechselseitig ausschließende Gegensätze betrachtest. Paradoxien heben sich stets in einer größeren Einheit auf.

Die wichtigste politische Aktivität eines Menschen liegt in der Bemühung und Bereitschaft, das eigene Bewusstsein zu erweitern und hinsichtlich der eigenen Eingebundenheit in ein größeres Ganzes im Klaren zu sein. Ich bin überzeugt, dass abseits von Kameras und Megaphonen, jenseits des Mainstreams, ein großes Erwachen stattfindet. Die Zeichen der Zeit werden zu offensichtlich, um sie noch übersehen, absichtlich darüber hinwegsehen oder auf zynische Weise der deterministischen Wolfsnatur des Menschen zuschreiben zu können.


Vom Gesellschaftsvertrag der Maschinenmenschen

Die industrialisierte Zivilisation wird seit einigen Jahrhunderten durch eine bestimmte Grundhaltung in ihrem Wahn bestärkt alles richtig zu machen und in der Folge angetrieben, die planetare Arbeitsmaschinerie und das Wertsystem, das dieser zugrunde liegt, in alle Welt zu exportieren. Diese Einstellung beruht u.a. auf der allgemeinen Anbetung des Mammon und fragmentiert das Dasein, entfremdet den Menschen von sich selbst und von der Natur und verhindert, die wechselseitige Verbundenheit alles Seienden aktiv wahrzunehmen und sich dieser Einsicht entsprechend zu verhalten. Das Bewusstsein, dass wir aufeinander angewiesen sind und dass wir alle aufeinander bezogen sind, geht verloren; und zwar umso mehr, als Argwohn und Misstrauen gegenüber den Absichten der Mitmenschen sich breitmachen und die Bedeutung dessen, was es heißt ein Mensch zu sein, verzerren. Dieser zügellose, ungehemmte Argwohn, dass der andere mir etwas zuleide tun könnte, hat etwas zutiefst Häßliches und Trauriges.

Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass sich durch diese Einstellung das Selbstbild des Menschen so stark eingeschränkt hat, dass wir das, was uns als Menschen einzigartig sein lässt – unser unbegrenztes Potenzial für Liebe, Fürsorge, Mitgefühl – verkümmern lassen. Stattdessen schalten wir individuell und kollektiv in einen Überlebensmodus (survival mode). In diesem zählt einzig und allein das körperliche Überleben. In der Folge fallen wir einer selbsterfüllenden Prophezeiung zum Opfer, wenn private und öffentliche Präventivkriege geführt werden oder dem Macht- und Wettbewerbsstreben oberste Priorität eingeräumt werden weil uns sonst der Andere überholt, aussticht, überfällt, ausraubt, niedermacht. Noch dazu handelt es sich um einen Glaubenssatz, der auf einer verkürzten Rezeption der Quelle beruht, wie wir noch sehen werden. Ursprünglich vom Komödiendichter Plautus (254-184 v.Chr.) verwendet, um in seiner Komödie Asinaria (Eseleien) einen Kaufmann zu Leonida sagen zu lassen: »lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.« Übersetzt:

Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch,
solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.

Zunächst einmal: Warum ein Wolf? Wie sind Wölfe? Ich denke dabei an Die Wolfsfrau (orig. Women Who Run With the Wolves: Myths and Stories of the Wild Woman Archetype) von Clarissa Pinkola Estés: Die unbändige wilde Natur der Frau, wenn sie wirklich und wahrhaftig zu sich selbst steht und in ihre Kraft kommt, dargestellt anhand von mündlich überlieferten Geschichten und psychoanalytischen Betrachtungen. Dieses Buch ist heute immer noch immens wichtig für Frauen und Männer. Dann natürlich Kevin Costners Regiedebüt Der mit dem Wolf tanzt (orig. He Who Dances with Wolves), dessen Botschaft die Versöhnung mit den Ureinwohnern des Neuen Kontinents ist. Es gibt zahlreiche Bücher und Filme, die vermitteln, wie viel der Mensch von Wölfen lernen kann – über Vertrauen, Treue, Mut, Leben, Glück.

Lassen wir also für den Moment mal die Annahme beiseite, dass der Wolf eine grausame Bestie ist, die sich in einem dunklen Märchenwald versteckt und kleine Kinder auffrisst, die auf dem Weg zur Großmutter sind. Auch die Abbildung kultureller Voreingenommenheiten in Kino und Fernsehen, wenn Wölfe über Menschen herfallen, die sich einen Weg durch die Wildnis schlagen. Lassen wir die blind übernommenen Glaubenssätze mal für den Moment beiseite und versuchen wir uns zu erinnern, wann sich zuletzt ein konkreter Mensch uns gegenüber »wie ein Wolf« verhalten hat. Wann sind wir zuletzt mit einem echten lebendigen Menschen »wie ein Wolf« umgegangen?

Wenn wir das eigene Denken und Verhalten
mit dem homo homini lupus-Satz rechtfertigen,
dann vergessen wir Ursprung und Kontext dieses Satzes.

Es war Thomas Hobbes, der den Grundstein für einen in unserer Kultur vorherrschenden Glaubenssatz, nämlich: dass es einen Staat mit absoluter Machtbefugnis braucht. Die Einrichtung des Staates, der Gesellschaftsvertrag sowie der Prozess der Arbeitsteilung blieben nicht ohne Folgen für die Machttriade von Technologie-Wirtschaft-Politik. Neben Francis Bacon und René Descartes, Adam Smith und John Locke war Thomas Hobbes zweifellos einer der Wegbereiter der Aufklärung, des Fortschrittsglaubens und der erbarmungslosen Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen. Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Sichtweise sich nach einem Paradigma ausrichtet, das heute wie im 17. Jahrhundert einer materialistischen Grundhaltung Vorschub leistet.

Staatstheoretiker der frühen Neuzeit wie Thomas Hobbes behaupteten, dass die physische Macht des Staates notwendig sei, um den »Krieg aller gegen alle«, wie er im »Naturzustand« herrsche, zu zähmen – und dass es daher für alle vernünftig sei, dem Gewaltmonopol des Staates zuzustimmen. Doch solche Vertragstheorien haben einen Haken: Die Gründung eines Staates aus diesen Motiven ist noch nirgendwo beobachtet worden. Und auch einen »Naturzustand«, in dem alle gegeneinnder Krieg führen, gab es in der Menschheitsgeschichte nicht.

Im Gegenteil, die systematische Gewaltanwendung nimmt mit der Entstehung von staatlicher Macht in Form von Armeen und Polizeikräften zu, nicht ab.

Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine (2015), S. 14

Das Modell von Thomas Hobbes beruht auf dem Ansatz, dass der Mensch im Grunde eine Maschine sei. Deren Funktionsweise sei der Bemühung unterworfen, Vergnügen zu empfinden und Schmerzen zu vermeiden. Seit dem Erscheinungsjahr 1651 hat die Vision des Leviathan das Antlitz der Erde verwandelt. Der Mensch ward dem animalischen Lust-/Unlust-Prinzip gleichgestellt, um ein staatliches Gewaltmonopol zu etablieren, das ihn vor sich selbst schützen sollte. Und man kann es Hobbes nicht mal anlasten. Denn schließlich bildete er einfach seine Weltanschauung ab, die sich gemäß seinem Charakter, Erfahrungsschatz und Wissensstand ausgeformt hatte. So sah nun mal seine Welt aus, die ganz stark von seiner Erfahrung des Englischen Bürgerkrieges (1642-1649) geprägt war: Leviathan (Staat) gegen Behemoth (Menschennatur). Darüber hinaus wird oft übersehen, dass sich die Bedeutung des Diktums, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, auf die Beziehung der Staaten untereinander und ihre kriegerischen Auseinandersetzungen beschränkt. Das Zitat stammt aus der Widmung von Hobbes‘ Werk De Cive (1642):

Nun sind sicher beide Sätze wahr:
Der Mensch ist ein Gott für den Menschen,
und:
Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen;
jener, wenn man die Bürger untereinander,
dieser, wenn man die Staaten untereinander vergleicht.

Hobbes Leviathan Frontispiz

Frontispiz von Hobbes’ Leviathan.

Zu sehen ist der Souverän, der über Land, Städte und deren Bewohner herrscht. Sein Körper besteht aus den Menschen, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben. In seinen Händen hält er Schwert und Krummstab, die Zeichen für weltliche und geistliche Macht.

Überschrieben ist die Abbildung durch ein Zitat aus dem Buch Hiob (41,25): „Keine Macht auf Erden ist mit der seinen vergleichbar“.

Quelle: Wikipedia


Kali Yuga

Just in der Epoche, in der der Mensch sich selbst als Maschine auffasste, wurde allen anderen Tieren ebenso die Seele abgesprochen und dieser Mangel als weitere Rechtfertigung genommen, sie auszubeuten, zu foltern und für die eignen Zwecke einzuspannen – ganz so wie man mit der Natur qua Natur umging.2

Was sinnlich wahrnehmbar war, war messbar;
was messbar war, wurde fortan gemessen;
was nicht messbar war, existierte per definionem nicht.

Der wissenschaftliche Raster (scientific grid) legte sich über die erfahrbare Wirklichkeit. Was die Welt in ihrer physis ausmacht, wurde analysiert, strukturiert, katalogisiert und instrumentalisiert. Die Philosophie, im Mittelalter die Magd der Theologie, wurde mit der Ankunft wissenschaftlicher Methodologie als Betrachtungsfeld unterschiedlichster Gattungen wie Mathematik, Geometrie, Physik, Moral usw. angesehen. Mit der Abspaltung der Fachwissenschaften wurde die Metaphysik ins Reich der Philosophie, die Liebe zur Weisheit zunehmend in den Bereich der Spekulation gedrängt bis schließlich heutzutage Philosophie als Spekulation zwar in vielen Kreisen als unterhaltsam betrachtet, zugleich aber als unwissenschaftlich und somit als unnütze Zeitverschwendung stigmatisiert wird.

Die Rationalisierung (lat. ratio, d.h. Verhältnis: wie viel x erhält man für y?) reduziert im Zusammenhang mit dem Machbarkeitswahn in rasendem Tempo die weltweite Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt. Ebenso hängt die Verringerung der Sortenvielfalt sowie die Vereinheitlichung der Nahrungsmittel mit der flächendeckenden Monokultur-Mentalität der Menschheit zusammen.

Nicht zuletzt ist es der Umgang der Menschen untereinander, der durch die Identifikation mit professionellen Masken, Betriebsfunktionen und gewissenloser Gleichschaltung leidet und mit der Zeit die Ausrichtung des Denkens und Handelns in lineare Einbahnen und Sackgassen lenkt. Oberflächlich betrachtet scheint es tatsächlich so zu sein, dass Menschen im 21. Jahrhundert nach wie vor die List der wilden Tiere zu Hilfe nehmen müssen, um sich selbst zu schützen. Wir sind heute so weit davon entfernt wie noch nie, die Einheit mit der Natur wahrzunehmen, und ja – unsere Endlichkeit als Wahrheit anzunehmen. Vielleicht ist das alles auch zu pessimistisch. Ich hoffe es. Ich wünsche mir so sehr, dass dies die dunkelste Stunde vor dem Sonnenaufgang ist.


https://www.youtube.com/watch?v=pUY0VlnVhiU

Verfolg in Liebe all die Ziele die du gut nennst
Doch geh nie gegen dein eigenes Blut Mensch
Denn du irrst wenn du denkst hier steht jeder für sich
Was gegen uns geht geht gegen dich
An jedem Start ist ne Ziellinie
und wir sind alle gleich weit
und aus einer Familie


Nacktes Überleben oder Gutes Leben

Im Leviathan verlangte Hobbes nach einem Staat, der mit absoluter Macht verhindern sollte, dass sich die »Untertanen« des uneingeschränkt herrschenden Souveräns gegenseitig die Köpfe einschlagen. Doch Menschen tun dies nicht freiwillig. Es sind Führungspersönlichkeiten wie Alexander der Große, Caesar, Cato, die sich ihrer Raubtiernatur und ihren Machtgelüsten hingeben und ihrem Hass die Zügel schießen lassen, um das eigene Volk mit Befehlen gegen ein anderes aufzuhetzen. Dabei appellieren sie fast immer an den Selbsterhaltungstrieb und an die Angst der Menschen. Oft hat jedoch der Große selbst die meiste Angst um die Erhaltung seiner Machtposition. »Quis custodiet ipsos custodes?«Wer wird über die Wächter wachen?, fragte Juvenal daher zurecht. Zwischenmenschliche Beziehungen und Staatsbeziehungen müssen also unbedingt differenziert werden…

Dort nähert man sich durch Gerechtigkeit, Liebe und alle Tugenden des Friedens der Ähnlichkeit mit Gott; hier müssen selbst die Guten bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und die List, d.h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe nehmen.

Thomas Hobbes: Widmung an Grafen Wilhelm von Devonshire, De Cive (1642)

Die Idee, dass wir uns voreinander schützen müssen, ist nachvollziehbar, wenn man sich bewusst macht, dass Hobbes den aristotelischen Grundsatz, der Mensch sei ein zoon politikon, negierte. Er meinte, der Mensch strebe nicht von Natur aus nach Gesellschaft; im Gegenteil: den von ihm postulierten »Naturzustand« der menschlichen Gesellschaft sah Hobbes im »Krieg aller gegen alle« (bellum omnium contra omnes). Die Etablierung des allmächtigen Leviathan hatte die Überwindung der Furcht vor wirklichen und eingebildeten Gefahren und das nackte Überleben als Ziel. Bei Aristoteles hingegen ging es um eudaimonia, d.h. um Glückseligkeit, um die Freundschaft, um die Gemeinschaft, das gute Leben.

Es macht also Sinn, dass Hobbes‘ neuzeitliche Auffassung von Mensch und Natur „ein Angriff auf die Vorstellung war, die Gesellschaft beruhe auf früheren Bindungen der gemeinschaftlichen Solidarität.“3 David Graeber spricht damit die sozialen Bindungen und Vertrauensbündnisse an, die zwischen Mitgliedern der Dorfgemeinschaften bestanden. Die Menschen glaubten aneinander (lat. credit = er/sie glaubt) und gewährten einander im Vertrauen Kredit, wenn jemand Waren oder Dienste in Anspruch nahm. Nur selten tauschten sie Kartoffeln gegen Schuhe oder Getreide gegen Tierfelle. Es braucht schon eine rege Phantasie, sich ein solch krudes Tauschsystem überhaupt vorzustellen, das es in Wirklichkeit so niemals gab. (not bad, Adam!)

Tatsächlich wurde im Großen und Ganzen jeder nach seinen Fähigkeiten eingesetzt und jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben. Um die zwischenmenschliche Beziehung aufrecht zu erhalten war es durchaus üblich, ein bisschen mehr zu geben als man zuvor bekommen hatte. Man kannte sich, also wurde kaum sofort bezahlt, eher wurde angeschrieben. Durch wechselseitige Vertrauensverhältnisse entstanden auf diese Art und Weise Gemeinschaften, die auf mehr basierten als auf dem bloßen Austausch von Gütern und Dienstleistungen. Zurückzugeben was man bekommen hat, oder den genauen Wert einer Gabe zu ermessen und zurückzugeben wäre gleichbedeutend gewesen mit der Aufkündigung der Handelsbeziehung, in manchen Fällen sogar der Freundschaft.

Auch wenn es keine Gesellschaft gibt, die vollkommen kommunistisch lebt, so liegt doch das Prinzip „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ einer großen Anzahl alltäglicher Tätigkeiten zugrunde. Intern kommunizieren und arbeiten auch kapitalistische Unternehmen auf kommunistische Art und Weise. Überall da, wo effizient und nicht hierarchisch gearbeitet wird, wo kooperiert statt taktiert wird, wo improvisiert und nicht nach dem eigenen Vorteil geschielt wird, da erleben wir Kommunismus im weitesten Sinne. Wir kennen dieses Phänomen sehr gut: Bei Naturkatastrophen handeln Menschen oft auf diese Weise, denn Hierarchien und Märkte erscheinen dann als Luxus, den sich die Gemeinschaft absolut nicht leisten kann. Im Grunde lässt sich sagen, dass Kommunismus das Fundament des menschlichen Zusammenlebens darstellt. Auf dieser grundsätzlichen kooperativen Bereitschaft – und auf der unentgeltlichen Tätigkeit unzähliger Frauen im Haushalt – baut der Kapitalismus auch heute noch auf.

Die eigentliche Frage lautet jetzt, wie wir die Maschine ein wenig drosseln und eine Gesellschaft schaffen können, in der die Menschen weniger arbeiten und mehr leben können. Daher möchte ich ein gutes Wort für die untüchtigen Armen einlegen. Denn zumindest schaden sie niemandem. Wenn sie die Zeit, die sie sich frei nehmen, mit ihren Freunden und ihrer Familie verbringen und sich um die Menschen kümmern, die sie lieben, tragen sie vermutlich mehr zu einer besseren Welt bei, als uns bewusst ist. Wir sollten sie als Vorreiter einer neuen Wirtschaftsordnung betrachten, die weniger als die gegenwärtige darauf versessen ist, sich selbst zu zerstören.

David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre (2014), S. 495

1 Käptn Peng: Sockosophie
2 Robin G. Collingwood: Die Idee der Natur (1945)
3 David Graeber: Schulden (2014), S. 420


Geschichtsvergessenheit

Persönliche Überzeugungen und gesellschaftliche Übereinkünfte lassen sich mit zunehmendem Alter immer schwieriger voneinander trennen. Sie entstehen in Abhängigkeit voneinander und beeinflussen einander. Es ist fraglich, wie eigen denn tatsächlich die eigenen Überzeugungen sind – entstehen doch bereits eine ganze Menge von Ansichten und Meinungen, auf denen unser alltägliches Leben basiert, durch Gruppendruck, soziale Meinungsblasen und Ausschlussmechanismen. Ich spreche natürlich von dem, was wir gewöhnlich Kultur nennen. Als Fundament der gegenwärtigen Kultur sehe ich eine allgemeine Abmachung: Geld.

Lass uns gemeinsam eine selten hinterfragte Überzeugung, die an der Wurzel unserer weltlichen Anstrengungen liegt, kritisch überprüfen. Woher rühren denn Argwohn und Misstrauen, sobald es um Geld geht? Glauben wir, dass das Leben etwas ist, das es zu »bewältigen« gilt? Wie formt sich eine Weltanschauung, wenn nicht auf Grundlage von Überzeugungen, Vorstellungen, Ideen? Und all die Ideen, wo kommen die her? Was machst du mit ihnen, und was machen sie mit dir? Sind »Geld« und »Schulden« vielleicht auch nur Ideen?


Die Macht der Schulden

Was sind Schulden denn überhaupt? Sie sind nichts weiter als die Perversion eines Versprechens, das von der Mathematik und der Gewalt verfälscht wurde. Wenn wirkliche Freiheit darin besteht, Freundschaften zu schließen, so umfasst sie zwangsläufig auch die Fähigkeit, wirkliche Versprechen abzugeben. Welche Art von Versprechen könnten wirklich freie Menschen einander geben? Heute sind wir nicht einmal in der Lage, diese Frage zu beantworten. Wir müssen erst einmal die Fähigkeit entwickeln, herauszufinden, wie solche Versprechen aussehen könnten. Wir müssen uns nur Folgendes bewusst machen: Niemand hat das Recht, uns zu sagen, was wir wirklich schulden. Niemand hat das Recht, uns zu sagen, was wir wirklich wert sind.

David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre (2014), S. 496

Über Geldnot zu klagen und Schulden als Geißel der Menschheit zu bezeichnen scheint das Los vieler Menschen zu sein. Tatsache ist, dass der Großteil der Bevölkerung Geld nicht als Tauschmittel ge-braucht. Viel eher wird die persönliche Wahrnehmung durch die Vorstellung regiert, dass wir Geld zum Leben brauchen. Daraus folgt, dass ein Leben ohne Geld zu Ende wäre, und wenn es nicht zu Ende wäre, dann wäre es zumindest ein Leben, das nicht lebenswert wäre.

Wer ehrlich mit sich selbst ist, muss wohl oder übel eingestehen: Die Angst ohne Geld dazustehen ist fast schon gleichbedeutend damit, dass das eigentliche Leben zu Ende ist und dass fortan eine Existenz in Mühsal, Elend und Abhängigkeit gefristet wird. Doch wie sieht das Leben für viele Menschen heutzutage aus? Besteht es nicht für viele aus Mühsal, Elend und Abhängigkeit von dieser mysteriösen Sache namens »Geld«? Besteht nicht das, was allgemein »Leben« genannt wird, zu großen Teilen aus Hegemonie… Monogamie… Monotonie… und dem Befolgen der entsprechenden Dogmen eines programmierten Bewusstseins, oder sollte ich sagen: einer programmierten Bewusstlosigkeit?

Wie funktioniert Geld? Es ist für alles Nützliche einsetzbar, eben weil es selbst keinen Nutzen hat. Im kollektiven Bewusstsein wird Geld als ungeheuer komplexe Materie aufgefasst. Wie die Juristerei ist für die Mehrheit der Bevölkerung die Geldwirtschaft ein Buch mit sieben Siegeln. Eine kurze Analogie aus dem IT-Bereich möge zur Veranschaulichung dienen. Es ist für einen Benutzer (user/consumer) vollkommen ausreichend, Geld zu verdienen und auszugeben. Die Macht zu entscheiden, was Benutzern erlaubt ist und was nicht, liegt bei den Entwicklern (developer/banker). Worin sich alle Benutzer ähnlich sind, ist ihre Einstellung, dass die Zusammenhänge unheimlich kompliziert sind und es geradezu an Magie grenzt, das Ganze im Überblick zu behalten. Was aber, wenn Geld in Wirklichkeit etwas ist, an das wir alle glauben, damit es zum Fundament eines Systems werden kann, dass die Ausbeutung des Menschen durch Menschen ermöglicht?

Es ist eines der schmutzigen Geheimnisse der Zivilisation, dass sie auf der systematischen Einführung der Sklaverei beruht.

Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine, 2015, S. 17

Wir sind es, die dem Geld Wert zuschreiben. Geld an sich ist wertfrei. Geld ist kein Allheilmittel und es ist auch nicht die Wurzel alles Bösen (auch wenn ich Horace Andy mag). Zugleich dient Geld zweifellos als Grundlage eines Systems, das auf Ausbeutung, Sklaverei und Krieg basiert. Zu vieles, was heute getan wird für Geld, dient einigen wenigen Menschen und schadet unzähligen Wesen. Der Raubbau am Planeten wird durch unseren Glauben an Geld aufrechterhalten, einfach weil wir für Geld Dinge tun, die wir sonst niemals tun würden.

Die Parallelen zu einem Glaubenssystem in der Tat verblüffend.

  • Im heutigen Finanzwesen finden sich „Gläubiger“
  • Es werden „Kredite“ vergeben (lat. credo=ich glaube)
  • „Vater“ Staat hat das unumschränkte Monopol der „Geldschöpfung“
  • Es kann in einem Staat nur eine einzelne Währung geben, so wie es nur einen Gott geben darf.
  • Geld wird von einer zentralen Stelle ausgegeben und über die Banken (Priester) verteilt.
  • Steuerschulden müssen in der ausgegebenen Währung beglichen werden.
  • Während sich Ökonomen um genaue Begriffsklärungen bemühen und Staatschefs für Ordnung im Staatshaushalt sorgen, wird der Gesamtzusammenhang und dessen Ähnlichkeit mit einer religiösen Überzeugung übersehen bzw. ignoriert.
  • So wie jede Religion hat auch diese ihre Geschichte – ganz so wie die seit der Bronzezeit aus der Erdkruste geschürften Edelmetalle und den daraus geformten Artefakten und Kunstgegenstände, den uniformen Währungseinheiten, die wir als Zahlungsmittel verwenden.

Es gibt indirekte etymologische Hinweise für die herrschende Auffassung, dass der Mensch schuldig geboren sei. Anders gesagt: es ist möglich, durch sprachliche Konventionen darauf hinzuweisen, dass Menschen in dem Glauben gehalten wurden, sie seien von Geburt an mit einer Art »Ur-Schuld« belastet.

In allen indoeuropäischen Sprachen sind die Wörter für »Schulden« synonym mit »Sünde« und »Schuld«, was die Verbindungen zwischen Religion und Bezahlung und die Funktion von »Geld« illustriert, zwischen dem heiligen und dem profanen Bereich zu vermitteln. Zum Beispiel gibt es einen Zusammenhang zwischen dem deutschen Wort Geld, dem altenglischen Geild, das Entschädigung oder Opfer bedeutet, dem gotischen Gild für Steuer und natürlich dem heutigen englischen Wort guilt [Schuld im moralischen Sinn].

David Graeber: Schulden (2014), S. 77 (Graeber zitiert Geoffrey Ingham, der Michael Hudson zitiert, der sich wiederum auf ein Argument von Phillip Grierson’s The Origins of Money, 1977, bezieht.)

Schulden müssen beglichen werden – so lautet die unumstößliche Überzeugung fast aller Menschen. Dabei ist dies gar nicht der Fall, genauer: dieses Credo gilt nicht für alle. Die zu Grunde liegende Ideologie von Schuld und Schuldentilgung bzw. von Sünde und Sühne haben wir im Zuge der Sozialisierung und Aufnahme in die Kultur unserer Gesellschaft aufgesaugt. Sie war Teil unserer Konditionierung, die wie so vieles im Leben ist: a mixed package. Auf Schritt und Tritt begegnen wir der Schuld. Da ist die ewig uneinbringliche Schuld gegenüber den leiblichen Eltern bzw. Vorfahren. Wir alle kennen Schuldgefühle aufgrund begangener Taten oder gesprochener Worte. Schließlich gibt es die unserer abendländisch-christlichen Kultur eigentümliche Schuld im Sinne der katholischen Kirche – du weißt schon, die berühmte Geschichte mit Adam und Eva und deren Vertreibung aus dem Paradies eines Daseins in Unschuld und Unkenntnis.

Wo auch der Ursprung von Schuld liegen mag, im kollektiven Bewusstsein der Menschheit ist auch das Schuld-Bewusstsein tief verankert. Dass es in der 5000-jährigen Geschichte immer wieder zu verzweifelten Aufständen kam mit dem Ziel, vom Joch der Schuld befreit zu werden, ist nicht verwunderlich. Seit Jahrtausenden war die Grundabsicht von Revolten die Vernichtung der Schuldenregister – ein Hinweis auf das immense Machtpotenzial der Schrift, deren „primäre Funktion“ Claude Lévi-Strauss zufolge darin besteht, „die Versklavung anderer Menschen zu erleichtern“.1 Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen waren – richtig geraten – Bestandslisten und Schuldverzeichnisse, die von den Schriftführern bzw. Schreibern der Tempelanlagen aufgenommen wurden. Heutzutage sind wir im Jahr 2020 n.Chr. angekommen: Wer kann sich denn vorstellen – kannst du dir vorstellen, die Forderung zu stellen, dass alle Schulden erlassen werden?

Ich habe den Eindruck, ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild ist überfällig, für Staatsschulden wie für Konsumschulden. Ein genereller Schuldenerlass wäre nicht nur heilsam, weil er menschliches Leid lindern könnte. Er riefe uns auch in Erinnerung, dass Geld nichts Geheimnisvoll-Unvergleichliches ist und dass das Begleichen von Schulden nicht das Wesen der Sittlichkeit ausmacht.

All diese Vorstellungen sind menschliche Erfindungen, und in einer richtigen Demokratie hätten alle Menschen die Möglichkeit, ihre Gesellschaft anders zu organisieren.

Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre (2014), S. 495

Ist es Zufall, dass der weltweit größte Schuldner sich als Weltrichter gebährt, der die effektive Rückzahlung von Schulden anderer fordert und zugleich die eigenen Schulden monetarisiert? Das heißt: mit Hilfe von eigens erschaffenem Kreditgeld werden Staatsanleihen erworben. Neues Geld wird somit aus Nichts erschaffen. Physische, strukturelle und ideologische Macht ebneten seit jeher den Weg für Könige, Feudalherren und multinationale Konzerne, den Rest der Menschheit in Schuldknechtschaft bzw. moderner Lohnsklaverei zu halten. Das alte Motto gilt immer noch: Quod licet Iovi non licet bovi. Was dem Gott Jupiter, dem kaiserlichen Regenten, dem absoluten Herrscher erlaubt ist, das ist dem Vieh, dem Fußvolk, dem Normalsterblichen verboten. Eben: Geld aus Nichts erschaffen und damit die eigenen Schulden bezahlen. Und damit nicht genug. Um dem hegemonialen Machtgehabe die Krone aufzusetzen, ist der weltweit größte Schuldner zugleich jener Richter, der all die anderen Schuldnerstaaten mit verschiedenen Druckmitteln (Bretton Woods, IMF, World Bank, economic hitmen, military intervention) dazu nötigt, ihre Schulden zu begleichen. Die Vereinigten Staaten von Amerika hätten von einem generellen Schuldenerlass überhaupt nichts – im Gegenteil: ihre Gläubigeransprüche an die Verdammten dieser Erde würden für null und nichtig erklärt! Zugleich wäre es eine Gelegenheit, mit dem in immer kürzeren Intervallen von Krisen heimgesuchten Fiatgeld-System und der potenziell unendlichen Anhäufung von Staatsschulden reinen Tisch zu machen.

Wie erwähnt lag einer Vielzahl von Volksaufständen und Bauernrevolten die Forderung nach einem allgemeinen Schuldenerlass und der Ruf nach Freiheit von Schuldknechtschaft und Sklaverei zugrunde. Das Mittelalter war geprägt von erbitterten Rechtsstreitigkeiten zwischen Bauern und Grundherren. Der erste generelle Schuldenerlass jedoch fand bereits im Jahr 2400 v. Chr. unter König Enmetena von Lagasch statt. Dies war zugleich „das erste Mal in der Geschichte, dass das Wort »Freiheit« in einem politischen Dokument auftaucht.“2 Bezeichnend ist, dass das sumerische Wort für Freiheit amargi wörtlich übersetzt etwa „zurückkehren zur Mutter“ bedeutet. Denn das war es, was sumerische und babylonische Könige durch das Dekret der »tabula rasa«, d.h. durch eine Generalamnestie aller Konsumschulden, den Schuldknechten erlaubten.

Der Anarchist, Ökonom und Vordenker der Occupy-Bewegung David Graeber zeichnet in seinem äußerst lesenswerten Buch Schulden. Die ersten 5000 Jahre die ökonomischen und sozialen Entwicklungen in Mesopotamien (3500 – 800 v.Chr.), Ägypten (2650 – 716 v.Chr.) und China (2200 – 771 v.Chr.) nach. Graeber erläutert ausführlich, in welch engem Zusammenhang Schulden, Sklaverei und Krieg stehen. Er spannt dabei den Bogen von der Antike und der nach Jaspers benannten Achsenzeit (800 v.Chr. – 600 n.Chr.) über das Mittelalter (600 – 1450 n.Chr.), das keineswegs so dunkel und grausam war wie in den Schulbüchern und in den Köpfen der meisten Menschen oft vorgestellt wird, bis hin zum Zeitalter der kapitalistischen Imperien (1450-1971).

Woher nur diese Spiegelung wie beim Phasendreher
Dass der Sklave nicht mehr frei sein will sondern Sklavenaufseher
Auf dass sich jeder verkriecht und das Klagen fällt schwer
Bis jedes Individuum verdaut ist im Magen des Datenmeer

Staat und Markt

Die beliebte Gegenüberstellung von Staat und »freiem Markt« ist eine Fiktion, die mit der geschichtlichen Wirklichkeit nichts zu tun hat.

Fabian Scheidler, Die Megamaschine (2015), S. 7

In jedem sozialen Gefüge wird eine Geschichte erzählt, ein Mythos. Auf diese Weise wird eine Welt erschaffen, die sich von der tatsächlichen Welt abgrenzt. Es ist eine Welt, die im Kopf Form annimmt und beeinflusst wie unsere Sinne funktionieren. Die Botschaft des modernen Mythos besteht im Glauben, dass wir Geld besitzen können.

In Wirklichkeit wird Geld von einer zentralen Stelle (Notenbank) gedruckt und einer staatlichen Autorität mit Gewaltmonopol geliehen. Von Banken wird in digitaler Form Kredit erschaffen – im 21. Jahrhundert symbolisieren Zahlen auf einem Bildschirm Einträge im Buch des Lebens und bestimmen, wer zum Reich der Auserwählten und wer zu den Verworfenen, den losern gehört.

Was Slumbewohner und Aufsteiger voneinander scheidet, sind Ziffern, die in der zeitgenössischen Variante des Lebensbuches verzeichnet sind: dem Konto.

Fabian Scheidler, Die Megamaschine (2015), S. 38

Bis zum Jahr 1971 war das ausgegebene Geld durch die entsprechende Menge an Goldvorräten gedeckt. Ab diesem Zeitpunkt wurde Fiatgeld gedruckt und später in digitaler Form erschaffen. Dieses ungedeckte Fiatgeld, das seine Gültigkeit allein der Macht des Staates verdankt, wurde und wird bis heute dazu verwendet, die Staatsschulden zu begleichen. Auf diese Weise kann der Staat sich immer mehr verschulden, und immer mehr Geld erschaffen, mit dem diese Schulden getilgt werden. Wo beginnt die Schuld – wo beginnt das Geld? Wir haben es mit einem potenziell ewigen Kreislauf des globalen Mammon zu tun, der die Menschheit in kontinuierlicher Schuldsklaverei hält. Denn Schulden müssen seit jeher in der von der staatlichen Auorität nominierten und herausgegebenen Währung entrichtet werden. Dafür sorgen Bankengesetz und Staatsgewalt.

Auf diesem Kreislauf basiert auch im 21. Jahrhundert der Militär-Geld-Sklaverei-Komplex.3 Und gesprengt, gebohrt und geschürft wird nicht mehr in erster Linie um Gold und Silber für die Münzprägung zu gewinnen, sondern Tantal, Coltan, Kupfer und Palladium um die neueste Version von smart phones (for dumb people?) herzustellen.

Geldwirtschaft ist kein Wunder und kein Naturgesetz. Den natürlichen Tauschhandel, so wie ihn Adam Smith sich im stillen Kämmerlein ausgemalt hat, hat es so niemals gegeben. Sein berühmtes Beispiel für die Arbeitsteilung hat er scheinbar vom persischen Gelehrten Ibn-Muhammad al-Ghazali (1058-1111) abgeschrieben.4 Und doch folgen nach wie vor zeitgenössische Wirtschaftswissenschaftler seinen Prämissen.

Aus anthropologischer Perspektive war Geldwirtschaft zu allen Zeiten mit enormen sozialen Spannungen verbunden und Faktor, der die Gesellschaft zutiefst gespalten und in ihren moralischen Grundsätzen schwer erschüttert hat. Mit der Etablierung des sogenannten »freien Marktes« (der mit wahrer Freiheit ebenso wenig zu tun hat wie die Freiheitliche Partei) und der gebetsmühlenartigen Wiederholung, der Neoliberalismus sei ein Naturgesetz, zu dem es keine von Menschen geschaffene Alternative geben könne, haben sich Vertreter dieses Komplexes gegen Kritik immunisiert. Konzepte einer anderen Wirtschaftsstruktur werden im Keim erstickt. Plädoyers zu einer Rückkehr zum menschlichen Maß werden überhört.5 Der Begriff der Anarchie wird seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt, der Begriff der Utopie verzerrt und ins Reich des Unmöglichen abgeschoben.

In den letzten 30 Jahren ist ein Bürokratiemoloch entstanden, der Hoffnungslosigkeit erzeugt und aufrechterhält, eine übermächtige Maschinerie, deren Hauptzweck darin besteht, jede Hoffnung auf eine andere Zukunft zu zerstören. Die Regenten unserer Welt bemühen sich seit den Erhebungen der sechziger und siebziger Jahre sehr, den Menschen jegliche Hoffnung zu rauben, dass soziale Bewegungen durchaus gedeihen und überzeugende Alternativen hervorbringen könnten. Sie wollen unbedingt verhindern, dass der Eindruck entsteht, an den bestehenden Machtverhältnissen könne tatsächlich etwas geändert werden.

Dazu bedarf es eines riesigen Apparats von Armeen, Gefängnissen, Polizeieinheiten, verschiedensten privaten Sicherheitsdiensten und zivilen und militärischen Nachrichtendiensten sowie vielfältiger Propagandamaschinen, welche die Alternativen zumeist nicht direkt angreifen, sondern eine ständige Atmosphäre der Furcht, des chauvinistischen Konformismus und der Verzweiflung erzeugen, in der jeder Gedanke an eine andere Welt wie ein nutzloses Hirngespinst wirkt.

David Graeber: Schuld. Die ersten 5000 Jahre (2014), S. 485

Das Vermächtnis der Wolfsmoral macht es schwierig, als Menschheit an einem Strang zu ziehen, weil wir im Gegenüber nur selten eine Schwester/einen Bruder sehen. Darüber hinaus machen es epistemologische Cartoons (Terence McKenna) recht schwierig, das Eindeutige vom Zweideutigen und das Sein vom Schein zu trennen. Nehmen wir zum Beispiel die schrulligen Ideen, die in einer verängstigten Bevölkerung auftauchen, allzu ernst, dann verstricken wir uns rasch im Dickicht der Meinungen. Es ist für die meisten einfacher zu glauben, dass diese oder jene Gruppe von Menschen oder reptiloiden Hybridwesen oder Familien oder Unternehmen an der Macht sei und die Fäden im Hintergrund ziehe. Es sind die Freimaurer. Die Illuminati. Die Weltbank. Die Bilderberger. Die Rothschilds. Die Archons. Die Annunaki. You name it. Ist es tatsächlich so unvorstellbar, dass niemand die Kontrolle hat?! Oder wagen wir das nicht zu denken?

TERENCE MCKENNA

Geschichtsbewusstsein betrifft also keineswegs nur die äußerlichen Verhältnisse. Zu wissen wann was passiert ist – das ist bloß Information. Echte Einsicht entsteht durch Verankerung im Augenblick, sprich: Gewahrsein bzw. Achtsamkeit und damit einhergehend klares Verständnis. In buddhistischer Terminologie: sati-sampajañña. Dazu gehört auch die regelmäßige Überprüfung gewohnter Sichtweisen. Nur so lässt sich verhindern, dass übernommene Einstellungen oder ideologische Voreingenommenheit deine einzigartige Sicht auf die Wirklichkeit verdecken. Wie Thomas D so schön singt: … deine eingeschränkte Sicht bringt dich vom Licht ab…6

Nur mit sati-sampajañña – Gewahrsein und klares Verstehen – nimmst du die Schatten an der Wand als Abbilder der Projektion wahr und machst dich auf, die Quelle der Emanation zu finden.


1 Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen (1996), S. 294
2 David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre (2014), S. 275
3 op.cit., S. 348
4 op.cit., S. 355. Adam Smith steht damit nicht allein. So ist Descartes‘ cogito ergo sum auf Ibn Sina (Avicenna) zurückzuführen. Humes Postulat der Regularität taucht bereits bei al-Ghazali auf. Die islamische Philosophie hat zweifellos viele Erkenntnisse der europäischen Aufklärung vorweggenommen und vorbereitet.
5 Ernst Friedrich Schumacher: Small is beautiful (1973)
6 Wo ist dein Paradies, Reflektorfalke (2011)


Die Bedeutung der Krise

Es ist Zeit für eine tiefgehende Transformation des Einzelnen und der globalen Gemeinschaft fühlender Wesen. Die drohende Anpassung an eine »neue Normalität« mit ihren scheinbar notwendigen Zumutungen und normativen Zurichtungen ist in Wirklichkeit ein Weckruf, die bisherige Norm unserer atomisierten Gesellschaft nicht nur in ihrem Sosein, sondern auch in ihrem Gewordensein zu begreifen. Nur dann wird verhindert, dass ein althergebrachtes System in neuer Aufmachung mit dem politischen Banner der Veränderung aufrechterhalten werden kann.

Die Gesellschaft scheint gespalten zu sein:

Da sind diejenigen, die aus allen Wolken fallen, weil sie der Ansicht waren, dass es sich um ein relativ stabiles, gut funktionierendes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem handelte. Sie reagieren mit Angst um die Zukunft, da die Alternativen ihre Vorstellungskraft übersteigen.

Andere hingegen sehen die Krise als Zuspitzung einer Entwicklung, die sich seit mehreren Jahrzehnten abgezeichnet hat. Wieder andere reagieren mit Empörung, mit Wut, mit Widerstand, weil sie sich mit Gleichgesinnten zusammentun und sich innerhalb sozialer Blasen darin bestärken, dass der lock step eine weitere Phase eines Masterplans von deep state mit dem Ziel der schrittweisen Versklavung der Menschheit sei.

Sowohl Rezeption dieses Ereignisses als auch die Reaktion darauf sind Hinweise auf das Selbst- und Weltbild der Regierung und der Bevölkerung. Sie verdeutlichen die Relevanz bestimmter Bedürfnisse wie Nähe, Wärme, Umarmungen und die relative Bedeutungslosigkeit von Produktion, Vermarktung und Konsum. Das ist zumindest mein persönlicher Eindruck, wenn ich Menschen treffe. Wie einst Sokrates beim Vorübergehen an Verkaufsartikeln, so sagen auch heutzutage viele still bei sich: »Wie zahlreich doch die Dinge sind, deren ich nicht bedarf.« Vielleicht befinde ich mich auch selbst in einer der zuvor genannten sozialen Blasen. Vermutlich. Fest steht: Was zuvor normal war, erscheint heute absurd. Was heute absurd erscheint, könnte bald zur Normalität geworden sein – wenn sich nur genügend Menschen daran gewöhnt haben werden.

Warum liegt die Mehrheit immer falsch?
Wie groß ist der Spielraum menschlicher Kreativität?
Welche Grenzen sind dem menschlichen Denken gesetzt?
Warum findet Innovation stets außerhalb standardisierter Normen statt?

κρίσις (krísis) bedeutet ursprünglich Entscheidung, Beurteilung. Das zugehörige Verb κρίνειν (krínein) kann demnach mit urteilen, unterscheiden, trennen übersetzt werden. Krisen zeigen das wahre Gesicht einer menschlichen Gemeinschaft, weil sie einen Entscheidungspunkt darstellen und klarmachen, dass brennende Fragen des globalen Zusammenlebens beantwortet werden müssen. Krisen sind laut Ilija Trojanow auch immer zu sehen als Katalysatoren für utopisches Denken. Durch Krisen werden politische Machtansprüche, soziokulturelle Gewohnheiten, familiäre und gesellschaftliche Verhältnisse, kollektive Wertesysteme, Nachbarschaft und Freundschaft auf den Prüfstand gestellt.

Wie lässt sich verhindern, dass Menschen weiterhin einem System der systematischen Ausbeutung dienen, dass sich Nützlichkeitsdenken, Lohnsklaverei und Konflikt im Innen- und Außenleben fortsetzen? Ich bin überzeugt, dass eine wahrhaftige, tragfähige, solide Veränderung ihren Ursprung im Inneren des Einzelnen nehmen muss; dass Selbstermächtigung und Selbstverantwortung und Selbstvertrauen uns den Weg weisen zu einer lebenswerten Welt, die wir miteinander gestalten; dass ein Wiederaufleben authentischer Spiritualität die Einsicht bringt, dass wir alle eins sind und Kriegführen auf Kranksein hinweist. Und ich bin überzeugt, dass das Empfangen und Ausführen von Befehlen ein Maschinenmodell des Menschen realisiert, das bereits bei seiner Entstehung im 17. Jahrhundert einem linearen Denken entsprang. Dieses lineare Denken gilt es heute mehr denn je zu überwinden. Wie Fabian Scheidler in seiner ausgezeichneten Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge erläutert, »verstellt das lineare Denken, so nützlich es in der Welt der unbelebten Materie auch sein mag, den Blick auf die Wirklichkeit der lebendigen Welt. In dem Maße, wie durch die Ausübung von Macht vorhersagbares Verhalten bei Befehlsempfängern erzeugt wird, nehmen auf der anderen Seite unerklärliche, ‚irrationale‘ Verhaltensweisen überhand, über die sich Psychologen, Soziologen und Pädagogen den Kopf zerbrechen.«1


1 Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine – Geschichte einer scheiternden Zivilisation (2015), S. 19.

Seinsvergessenheit

Ich könnte wie Carl Amery Briefe an den Reichtum schreiben. Ich könnte über die maßlose Gier der kurzsichtigen Profiteure schreiben, die die Umwelt rücksichtslos zerstören, solange für sie dabei etwas herausspringt. Über die Unfähigkeit der Politik, mehr zu sein als eine Institution zur Fortschreibung herrschender Zustände. Über die aktuellen Regierungsmaßnahmen und deren ökonomische und soziale Folgen. Über…
Moment mal. Es ist mir doch stets ein Anliegen, auf die Ursachen zu sprechen zu kommen. Deshalb schreibe ich heute über die Unwissenheit bezüglich einer menschlichen Überzeugung – einer Überzeugung, welche die eben erwähnten Symptome in Gesellschaft, Kultur und Umwelt hervorruft.

Was könnte wichtiger sein als jene so selten hinterfragte Überzeugung kritisch zu überprüfen, die an der Wurzel unserer Wahrnehmung liegt? Genauer: Woran glauben wir, wenn wir die Welt als entfremdet, die Gesellschaft als von unserem Selbst abgespalten wahrnehmen? Worin liegt der Ursprung unserer polarisierten Welt-Anschauung, wenn nicht in unseren eigenen Vor-Stellungen? Liegt nicht die Bedeutung jeder Krise in dir selbst? Was könnte dem Dasein, dem Leben und der Welt Bedeutung und Sinn verleihen, wenn nicht Du?


Von Normalität zur Norm
zur Normativität

It is no measure of health to be well adjusted
to a profoundly sick society.

JIDDU KRISHNAMURTI

Was ist schon normal? Normal ist was den eigenen Gewohnheiten entspricht. Alle Gewohnheiten im privaten und öffentlichen Leben nehmen mit der Zeit normativen Charakter an, mit anderen Worten: der Mensch hängt an Gewohnheit, ist ein Gewohnheitstier. Wir kennen das vom Gewohnheitsrecht, wenn Ansprüche gestellt werden, wo solche nie vereinbart worden sind. Wir wähnen uns im Recht, wenn wir etwas bekommen haben, und werden unmutig, wenn uns dies auf einmal vorenthalten wird. Wir verlangen nach Begründungen. Doch als wir es zuvor einfach grundlos erhalten haben, wo waren da die Fragen nach Begründungen? Wir waren dankbar (vielleicht) und sind nach einer Weile davon ausgegangen, dass es uns zusteht. Sei es die Zuneigung des Partners, das scheinbar sichere Einkommen oder der ohne Mucks anspringende und fortan schnurrende Motor des Privatautos: wir gewöhnen uns daran, entwickeln einen Habitus.

Warum hängen wir Menschen so sehr an Gewohnheiten? Ich nehme an, dass die menschliche Gewohnheit, sich so schnell an etwas zu gewöhnen, sich dadurch ergibt, dass Gewohnheiten eng mit der persönlichen Identität oder/und Gruppen-Identität verwoben sind und deshalb ganz entscheidend mitbestimmen, wie wir uns selbst sehen und uns anderen gegenüber darstellen. Sie sind so sehr Teil von uns, dass die gewohnten Vorlieben und Abneigungen geradezu ausmachen, wer wir zu sein glauben. Wer erinnert sich nicht daran, dass wir bereits als Kind eingeschult und konditioniert wurden: »Mein Name ist…« »Ich mag…« »Ich mag nicht…« »Mein Lieblings… « Das ist natürlich harmlos, wenn im Laufe des Lebens eine Ent-Schul(d)ung und De-Konditionierung stattfindet, die dieses Level der eigenen Seinsweise relativiert. Doch was passiert stattdessen? Im Laufe der Jahrzehnte wird der Wirklichkeit ein persönliches Rezept vorgeschrieben wie sie zu sein hat, damit sie den eigenen Gewohnheiten entspricht. Statt die eigene Sichtweise zu ändern, versuchen Menschen krampfhaft, die äußere Erscheinungswelt so zu einzurichten, dass sie »richtig« ist, d.h. den eigenen Bedürfnissen entspricht. Das ist klarerweise ein endloses Unterfangen.

Manche gehen schließlich bis zu dem Punkt, an dem sie vorgeben, die Wirklichkeit sei so wie sie sie sehen wollen. Bis zu dem Punkt, an dem man die Wirklichkeit schließlich so dekodiert, interpretiert und abgebildet wird, wie man sie zu sehen vorgibt. Subjektiv gesehen scheint dann alles im Lot, solange sich nur »die Anderen« danach richten – l’enfer, c’est pas les autres! – Tatsache ist, dass der Prozess der Entfremdung sich mit jeder weiteren Fehlinterpretation fortsetzt und die eigene Sichtweise als unumstößlich, endgültig, und am Schlimmsten: als wahr proklamiert wird. Da lob‘ ich mir Robert Anton Wilsons maybe logic.

Es ist kaum zu überschätzen, wie eng Gewohnheiten mit Identitäten verzahnt sind und wie stark Identität und Weltsicht zusammen entstehen. Diejenigen, die darauf aufmerksam machen, dass die menschliche Wahrnehmung unzulänglich ist und von falschen Voraussetzungen ausgeht; dass wir wissenschaftlichen Beweisen nicht blinden Glauben schenken dürfen, weil diese »Beweise« interessegeleitet sind und ohnehin nur bis zur nächsten Falsifizierung gelten; dass scheinbare Gegensätze wie Markt und Staat, Mann und Frau, Religion und Wissenschaft, gemeinsam entstehen und vergehen; dass Namen nicht die Dinge sind, sondern eben bloß Bezeichnungen für Dinge; werden als ver-rückt bezeichnet. Manchmal auch als Philosophen belächelt. Wie Jiddu Krishnamurti sagt: Es ist kein Zeichen von Gesundheit, an eine zutiefst kranke Gesellschaft gut angepasst zu sein.

VERSTÄNDNIS BEDEUTET VERWANDLUNG

Wahrnehmung als Rückkopplungsschleife

Erkenntnistheorie beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie wir erkennen. Um eine Erfahrung zu machen braucht es Kontakt der Sinnesorgane mit sinnlich wahrnehmbaren Objekten. Um eine bewusste Erfahrung zu machen, muss ein dem Sinn entsprechendes Bewusstsein vorhanden sein – auch wenn sowohl Auge als auch Objekt vorhanden sind, ich selbst jedoch mit der Aufmerksamkeit abwesend bin, findet kein Sehen statt. Was meine Sinne aufnehmen an Eindrücken, wird anhand der bereits verarbeiteten Informationen in die eigene Weltsicht integriert.

Beobachtung ist die Aufnahme von roher Information. Ohne anschließendes – beinahe augenblickliches – Dekodieren der Information gemäß unserer übernommenen Wertvorstellungen und Glaubenssätze sowieder durch diese mit bedingten identitätsstiftenden Vorlieben und Abneigungen findet keine Bewertung statt. Ohne Bewertung weiß der Mensch nicht, was mit einer Information zu tun ist. Sie wird also entweder schnell wieder vergessen oder unreflektiert weitergegeben. Ersteres ist meines Erachtens weit weniger gefährlich.

Kurzum: Es braucht die Interpretation, um einer aufgenommenen Information Bedeutung zu verleihen. Und welche Bedeutung ein bestimmter Inhalt erhält, liegt nicht im Inhalt begründet, sondern in der Natur des Empfängers, seinen Einstellungen, Vorbehalten, Neigungen, Abneigungen, Abhängigkeiten, Gewohnheiten, Ideen, Meinungen, Konzepten, Kapazitäten… all den individuellen Eigenheiten, die den persönlichen Charakter und damit die Wahrnehmungsweise bestimmen. Wie wir wahrnehmen bestimmt unsere Erfahrung.

If you want to change someone’s behavior, easier than altering their motivation or changing their actual environment is altering their perception of reality.

TIM URBAN, waitbutwhy.com

GLAUBENSSÄTZE
+Wertesystem +Motivationsstruktur

WAHRNEHMUNG

+Urteil über gut/schlecht, richtig/falsch

ERFAHRUNG

=angenehm/unangenehm/neutral

VERHALTEN

Die Tatsache, dass jemand ein Buch oder eine Zeitung mit der nötigen Aufmerksamkeit liest, um den Sätzen ihren sprachlichen Sinn zu entnehmen, bewirkt, dass Informationen aufgenommen werden. Die Wahrnehmungsweise des Individuums bestimmt, was diese Information bedeutet. Ebenso beeinflussen die Überzeugungen des Menschen, ob einer Information Glauben geschenkt wird. Die Auffassungen und Meinungen sind so unterschiedlich, dass eine Information entgegengesetzte Bedeutungen erhalten kann, je nachdem wer sie mit welcher Geisteshaltung liest. Ich spreche von der Gesamtheit jener Phänomene, die in Kognitionswissenschaften und Soziologie unter der Bezeichnung Kognitive Verzerrung bekannt sind und zur irrigen Annahme verleiten, etwas stünde fest und sei gewiss so wie man es auffasst, wenn in Wirklichkeit die eigene Art der Wahrnehmung dafür verantwortlich ist, dass bestimmte Informationen verschieden gewichtet werden, manche ignoriert, andere als unumstößlich gelten usw. usf. Das Feld kognitiver Verzerrungen, zu dem Bestätigungstendenz, kognitive Dissonanz, selektive Wahrnehmung, selbsterfüllende Prophezeiung, Motivated Reasoning u.v.m. gehören, ist geradezu unüberschaubar. Paul Watzlawick fragte daher ganz zu Recht: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“

Eine Person, die a) an eine Natur des Menschen glaubt und b) davon überzeugt ist, dass diese menschliche Natur gut ist, wird von der wohlmeinenden Absicht anderer Menschen eher ausgehen als ein Verfechter des homo homini lupus – Satzes.

„Der Mensch ist dem Menschen wohlgesinnt.“

Eine Person, die dieses Menschenbild verantwortet, wird eher geneigt sein miteinander zu teilen. Dadurch wird sie nach und nach eine Natur des Teilens entfalten. Auch wenn sie hin und wieder ent-täuscht wird, bedeutet das keineswegs, ihren Mut zu verlieren. Sie wird weiterhin teilen und im Lauf des Lebens erkennen, dass darin etwas zutiefst Menschliches liegt und dass es im Endeffekt immer mehr um die innere Haltung des Teilens geht, um die Kultivierung des eigenen Geistes und damit einhergehend die schrittweise Etablierung einer Kultur des Gebens und Schenkens.

„Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“

Ein Vertreter der Auffassung, die anderen Menschen seien Wölfe und es ginge in erster Linie darum, die eigene Haut zu retten, lebt in einer anderen Welt, die sich durch eine Kultur des Nehmens auszeichnet.1 Diese Person wird andere verdächtigen, auf deren Vorteil bedacht zu sein, und wird selten bemerken, dass diese Geisteshaltung ihre eigenen Vorannahmen (R.G. Collingwood nennt sie absolute Präsuppositionen) im Laufe der Welterfahrung mehr und mehr bestätigt.

So kommt es schließlich, dass je nach Interessenlage und Weltsicht der Aufruf zu einem Systemwandel im Sinne einer persönlichen Transformation vom einen als „realistisch“, vom nächsten „naiv“, vom anderen als „visionär“, von diesem vielleicht als „utopisch“ und von jenem als „illusorisch“ eingestuft wird. Und das Witzige daran: Alle werden von sich selbst aus betrachtet Recht behalten – denn die eigene Wahrnehmung fungiert als Rückkopplungsschleife der eigenen Geisteshaltung.

Was wir in der Welt erkennen ist genau das, was unserer Art der Wahrnehmung entspringt. Die Welt ist Spiegel. Die Wahrnehmung dieser Welt eine selbst erfüllende Prophezeiung, deren Qualität und Charakter sich stets der eigenen Geisteshaltung angleicht. Solange wir nicht imstande sind, die Perspektive zu wechseln, wird auch die Abbildung unserer Welt so bleiben wie sie ist, weil wir stets den gleichen uralten Code verwenden, um die 10000 Dinge zu dechiffrieren, die Kontakt mit unseren Sinnen herstellen – und dazu gehört auch das Gehirn als Organ des Denk-Sinns.

Um zu verstehen, was damit gemeint ist, muss das materialistische Weltbild hinterfragt werden und stattdessen alle Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung gelegt werden. Die gesammelte Aufmerksamkeit muss der Erfahrung der Erfahrung gewidmet sein. Dann erst gewinnt die Welt als Spiegel an Bedeutung.


1 Daniel Quinn hat in seinen faszinierenden Werken Ishmael und My Ishmael die grundsätzlichen Unterschiede einer Kultur des Gebens und einer Kultur des Nehmens beschrieben.