Ich schließe hier an einen anderen Beitrag an, in dem ich über confirmation bias geschrieben habe. Vermutlich kennst Du das Phänomen auch: Was ich lese und höre (vielleicht sollte ich genauer sagen: wie ich lese und höre) und generell etwas meinem Bewusstsein zuführe wie Nahrung zum Mund, das liegt meistens in jenem Bereich, der durch die von mir bereits festgelegten Neigungen und Meinungen vorbestimmt ist und diese bestätigt. Ist es nicht so, dass auch Du vor allem das (gerne) liest, was deinem eigenen Weltbild entspricht?
Es geht, denke ich, noch weiter. Es gefällt uns gerade deshalb, weil wir in unserer bereits vorhandenen Weltanschauung bestätigt werden. Wenn wir dann etwas lesen, das wir verstehen und nachvollziehen können, dann tauchen Gedanken an Menschen auf, die so wie ich denken. Daraus schließe ich dann, dass da noch jemand so denkt wie ich und das bedeutet wiederum, dass ich wohl nicht ganz verrückt sein kann.
Wenn das Ganze dann noch mit logischen Schlüssen und wissenschaftlichen Argumenten untermauert wird, dann ist es Fakt und damit fast schon unumstößlich – „wahr“. Für divergierende oder differenzierte Ansichten sind die Vertreter des Wissenschaftsglaubens nahezu unzugänglich. Denn wissenschaftstheoretische Überlegungen wie jene, dass Theorien stets falsifiziert werden, werden übergangen. Solange diese Falsifikation nicht geschehen ist, handelt es sich bloß um eine working hypothesis, also eine Hypothese, die bis zur nächsten Widerlegung zur vorläufigen Entwicklung von Wissen in Form weiterer Hypothesen geeignet erscheint. Zu diesem Thema empfehle ich Paul Feyerabend für humorvolle Akzente und Karl Popper für das ernsthafte Plädoyer. Die wenigsten Menschen begreifen heutzutage, was Wissenschaft bedeutet und jene, die sich am vehementesten auf wissenschaftliche „Tatsachen“ oder „Beweise“ berufen, haben am allerwenigsten Ahnung von Wissenschaft. In Gesprächen stelle ich immer wieder fest, wie undurchdringlich sich dieses Feld für die meisten Menschen darstellt und zugleich wie einzementiert die Meinung über dieses Feld in den Köpfen der meisten Menschen erscheint.
Das Spannende dabei: die Tendenz, die eigene Wahrnehmung entsprechend des vorhandenen Welbildes zu verzerren und entsprechend 1-schlägiger Literatur zu verfestigen, merkt und spürt man in erster Linie bei Anderen. Bei sich selbst hingegen registriert man die Voreingenommenheit diesbezüglich kaum.
Warum ist das so? Wieso bemerke ich bei meinen Mitmenschen – vor allem im näheren Verwandtschafts- und Freundeskreis – recht bald, wenn sie von ungewissen Prämissen ausgehen, sich in einem circulus vitiosus befinden, einem Zirkelschluss verfallen, einer sich selbst bestätigenden Selbstreferenz anheimfallen oder sich schlicht und einfach in „etwas verrennen“? Wie kommt es, dass ich üblicherweise kaum Schwierigkeiten habe, in anderen Personen übertriebene, einseitige oder gar verrückte Anteile auszumachen, während ich meine eigenen Vorstellungen keineswegs als Vor-Stellungen a priori über meine Person und die Welt deklariere?

Das eigene Verrücktsein, wie es Rumi lebte, ist gewöhnlich hinter einem Schleier von delusion, illusion, confusion und elusion (verdeckt). Dieser Schleier konstituiert den verrückten Anteil jedweder Person (lat. Maske) und agiert zugleich als Mechanismus, der die Illusion aufrechterhält und stützt. Ein klassischer Fall von Splitter und Balken (Luk 6:41-42). Besonders in intimen Beziehungen bemerke ich die Tendenz, den Anderen zu beschuldigen und verantwortlich dafür zu machen, wie ich mich fühle. Nach außen zeigen. Verurteilen. Verzweifelt am Ich festkrallen, das sich, wie Martin Buber in seinen Ausführungen stets auf unnachahmliche Weise schildert, durch das Du erst ins Dasein zu treten vermag. Wer sich gegen das Du richtet, richtet sich daran zugrunde.
Fehler beim Anderen zu finden ist einfach. Wenn zwei Menschen miteinander sprechen, ist es stets der Fall, dass die Grundannahmen über den Gesprächspartner – dessen mind-set, Einstellung zum Thema, Haltung und Position zu mir, zugrunde liegende Hierarchien – entscheidend mitbeeinflusst, wie etwas Gehörtes interpretiert wird. Wir erleben das jeden Tag. Echtes Verständnis ist äußerst selten. Was mir in diesem Kontext auffällt: Die verhältnismäßig unbedeutenden Menschen, Unternehmen, Nationen etc. nehmen sich am allerwichtigsten. Eine Art Superkompensation, die dem eigenen Minderwertigkeitsgefühl entspringt? Weil dieses Gefühl unangenehm ist, wird es in vielen Fällen nicht bewusst gemacht, sodass die Willensanstrengungen in die entgegengesetzte Richtung streben: den Mitmenschen, der Konkurrenz, den Nachbarstaaten muss weisgemacht werden, dass er ganz und gar unabdingbar, unersetzbar und wesentlich, heute würden es viele gemäß der propagandistischen Neusprech-Schulung „systemrelevant“ nennen. Ich nenne es Verblendung. Hochmut. Hybris.